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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer
Autoren: Maggie Stiefvater
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über die Zähne – sie schmecken salzig – und sehe zu, wie mein Vater sich die gleichfarbige Binde um den Oberarm knotet. Jedes Jahr sehe ich ihm dabei zu und jedes Jahr befestigt er die Armbinde mit ruhiger Hand. Diesmal nicht. Seine Finger wirken unbeholfen und ich weiß, er hat Angst vor dem roten Hengst.
    Ich habe es selbst schon geritten, dieses Capaill. Wenn ich auf seinem Rücken sitze, den Wind im Gesicht, das Donnern seiner Hufschläge in den Knochen, unsere Beine nass von Gischt, kennen wir keine Erschöpfung.
    Ich beuge mich vor, dicht an den Kopf des Hengstes, und zeichne gegen den Uhrzeigersinn einen Kreis über sein Auge, dann flüstere ich ihm etwas in sein weiches Ohr.
    »Sean!«, schimpft mein Vater und der Kopf des Capaill zuckt so schnell hoch, dass sein Schädel beinahe gegen meinen prallt. »Gehst du wohl weg von seinem Kopf! Siehst du denn nicht, wie hungrig er heute aussieht? Oder meinst du, du wärst hübscher, wenn dir dein halbes Gesicht fehlt?«
    Doch ich blicke weiterhin in die schmale Pupille des Hengstes und er starrt zurück, den Kopf leicht von mir weggedreht. Ich hoffe, dass er sich an das, was ich zu ihm gesagt habe, erinnern wird: Bitte friss meinen Vater nicht.
    Mein Vater räuspert sich und sagt dann zu mir: »Du solltest jetzt raufgehen. Na, komm ...« Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und steigt auf.
    Er wirkt klein und dunkel auf dem Rücken des roten Hengstes. Seine Hände ziehen schon jetzt unablässig an den Zügeln, um das Pferd am Platz zu halten. Jede Bewegung überträgt sich auf das Gebissstück im Maul des Tiers; ich sehe zu, wie sein Kopf vor- und zurückwippt. Ich hätte es anders gemacht, aber ich sitze nicht da oben.
    Ich will meinen Vater daran erinnern, wie der Hengst nach rechts scheut und dass er womöglich mit dem linken Auge besser sieht, stattdessen aber sage ich: »Wir sehen uns danach.« Wir nicken einander zu wie zwei Fremde, der Abschied knapp und linkisch.
    Ich beobachte das Rennen von den Klippen aus, als ein graues Uisce -Pferd sich in den Arm meines Vaters verbeißt, dann in seine Brust.
    Einen Moment lang hören die Wellen auf, an den Strand zu rollen, die Möwen über uns halten die Flügel still und die salzige Luft erstarrt in meinen Lungen.
    Dann zerrt das graue Wasserpferd meinen Vater aus seinem unsicheren Sitz auf dem roten Hengst.
    Der Graue kann meinen Vater nicht zwischen seinen scharfen Zähnen halten und lässt ihn in den Sand fallen, verloren, noch ehe er unter die Hufe gerät. Er lag an zweiter Stelle und es dauert eine endlose Minute, bis der Rest der Pferde über seinen Körper hinweggeprescht ist und ich ihn wieder sehen kann. Er ist nur noch ein länglicher, schwarz-dunkelroter Fleck im Sand, halb überspült von der schäumenden Gischt. Der rote Hengst zögert, schon auf halbem Wege zurück zu jenem hungrigen Meeresgeschöpf, das er immer gewesen ist, aber er tut, worum ich ihn gebeten habe: Er rührt das, was von meinem Vater geblieben ist, nicht an. Stattdessen trottet er ins Wasser. Nichts ist je so rot wie das Meer an diesem Tag.
    Ich denke nicht oft an die in der rötlichen Brandung treibende Leiche meines Vaters. Stattdessen denke ich an ihn, wie er vor dem Rennen gewesen ist: ängstlich.
    Ich werde niemals denselben Fehler machen.

1
    Puck Die Leute sagen immer, ohne mich wären meine Brüder verloren, in Wahrheit aber wäre ich ohne sie verloren.
Wenn auf der Insel jemand gefragt wird, wo er wohnt, antwortet er normalerweise so etwas wie »In der Nähe von Skarmouth« oder »Im hinteren Teil von Thisby«, »Auf der harten Seite« oder »'nen Steinwurf von Tholla«. Ich nicht. Ich weiß noch, einmal, als ich klein war und mich an die zerfurchte Hand meines Vaters klammerte, fragte mich ein alter, wettergegerbter Bauer, der aussah, als hätte ihn gerade jemand aus dem Acker ausgegraben: »Wo wohnst du, Kleine?« Ich antwortete, mit viel zu lauter Stimme für ein so kleines sommersprossiges Ding: »Im Connolly-Haus.« Er fragte: »Wo is'n das?« Und ich erwiderte: »Na, da, wo die Connollys wohnen. Ich bin nämlich eine.« Dann – und dafür schäme ich mich noch heute ein wenig, weil es eine dunkle Seite meiner Persönlichkeit enthüllt – fügte ich hinzu: »Und Sie nicht.«
    Aber so ist es nun mal. Es gibt die Connollys und es gibt den Rest der Welt – obwohl der Rest der Welt, wenn man hier auf Thisby lebt, nicht besonders groß ist. Bis zum letzten Herbst waren das die Connollys: ich, mein jüngerer Bruder
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