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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer
Autoren: Maggie Stiefvater
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Im letzten Garten geht es noch über eine alte Badewanne, die dort unerklärlicherweise herumsteht, bis wir schließlich auf der Straße landen, die zum Hotel führt.
    Natürlich ist Gabe da und natürlich sieht er mich sofort.
    Er fegt gerade mit einem riesigen Besen den Gehweg vor dem Hoteleingang. Das Hotel hinter ihm ist ein abweisender Bau, überwuchert von Efeu, in dessen Blattgewirr säuberliche Quadrate geschnitten sind, um die Sonne in die Fenster mit den leuchtend blauen Simsen zu lassen. Das Gebäude ist so hoch, dass es das Morgenlicht dimmt und den Steinweg, den Gabe fegt, in dunkelblauen Schatten taucht. Gabe wirkt groß und erwachsen in seiner braunen Jacke, die um seine breiten Schultern ein wenig spannt. Sein rotblondes Haar, einen Tick zu lang, mogelt sich seinen Nacken hinunter, aber er sieht trotzdem gut aus. Mit einem Mal bin ich unglaublich stolz, dass er mein Bruder ist. Er hört auf zu fegen und stützt sich auf den Besenstiel, als er mich auf Dove vorbeiflitzen sieht.
    »Nicht böse sein!«, rufe ich ihm zu.
    Ein Lächeln breitet sich auf einer Hälfte seines Gesichts aus, die andere bleibt ernst. Man könnte meinen, er sei glücklich, wenn man noch nie sein echtes Lächeln gesehen hat. Umso trauriger, dass ich mich mittlerweile fast an das unechte gewöhnt habe. Ich habe mich zu sehr darauf verlassen, dass das echte eines Tages schon wieder auftauchen wird, anstatt mir Mühe zu geben, es wiederzufinden.
    Ich reite weiter und treibe Dove zum Galopp an, sobald wir den Gehweg verlassen können und sie wieder Gras unter den Hufen hat. Hier ist der Boden weich und sandig; der Weg beginnt abzufallen und schlängelt sich dann zwischen den Hügeln und Dünen hindurch in Richtung Strand. Ich habe keine Ahnung, ob Finn vor oder hinter mir ist. Als der Pfad zu steil wird, muss ich Dove zu einem langsameren Trab zügeln. Schließlich macht sie einen letzten, etwas ungelenken Satz, der uns hinunter auf dieselbe Höhe wie das Meer bringt. Als wir die Böschung umrunden, stöhne ich ärgerlich auf: An der Stelle, wo das Gras in Sand übergeht, steht der Morris. In der Luft hängt der Geruch nach Abgasen, den das ansteigende Gelände ringsum hier unten festhält.
    »Du bist trotzdem ein gutes Mädchen«, flüstere ich Dove zu. Sie ist ziemlich außer Atem, gibt aber ein fröhliches Schnauben von sich. Für sie war es ein gutes Rennen.
    Finn steht in der geöffneten Fahrertür auf dem Trittbrett. Einen Arm hat er aufs Dach gelegt, der andere ruht auf der Oberkante der Tür. Er blickt aufs Meer hinaus, doch als Dove erneut schnaubt, dreht er sich zu mir um und schirmt die Augen vor der Sonne ab. Seine Miene wirkt besorgt, also treibe ich Dove an, bis wir neben dem Auto ankommen. Ich lasse die Zügel locker, damit sie ein Weilchen grasen kann, aber sie senkt den Kopf nicht. Stattdessen bleibt auch ihr Blick auf das flache Wasser gerichtet, auf einen Punkt etwa hundert Meter von uns entfernt.
    »Was ist?«, frage ich. In meinem Magen breitet sich ein ungutes Gefühl aus.
    Ich folge Finns Blick und sehe gerade noch, wie sich inmitten der Wellen für einen Moment ein grauer Kopf aus dem Wasser hebt. Er war so weit weg und seine Farbe der der aufgewühlten See so ähnlich, dass ich mich fast frage, ob ich ihn mir nur eingebildet habe. Aber Finn würde nicht so erschrocken die Augen aufreißen, wenn er sich nicht absolut sicher wäre. Einen Augenblick später taucht der Kopf wieder auf und diesmal sehe ich dunkle Nüstern, die so weit gebläht sind, dass ich selbst von hier aus eine Spur von Rot darin erkennen kann. Jetzt folgen auch der Rest des Kopfes und der Hals, die krause, vom Salzwasser angeklatschte Mähne und die mächtigen Schultern, triefnass und glänzend. Mit einem gewaltigen Satz befreit sich das Wasserpferd nun vollends aus den Wogen, als wäre dieser letzte Schritt aus der anschwellenden Flut ein beinahe unüberwindbares Hindernis.
    Finn zuckt zusammen, als das Pferd über den Strand in unsere Richtung galoppiert, und ich lege ihm die Hand auf den Ellbogen, auch wenn mir mein eigener Herzschlag in den Ohren dröhnt.
    »Nicht bewegen«, flüstere ich. »Nicht-bewegen-nicht-bewegen-nicht-bewegen.«
    Ich klammere mich an das, was man uns wieder und wieder eingebläut hat – dass die Wasserpferde auf Beute aus sind, die sich bewegt; sie lieben die Jagd. In meinem Kopf zähle ich eine Reihe von Gründen auf, aus denen es uns nicht angreifen wird: Wir bewegen uns nicht, wir sind nicht nah genug am Wasser
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