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Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
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von den alten Kohleminen, einige
davon ordentlich abgestützt, andere nicht. Isaac holte mit gezieltem Steinwurf
einen Abluftkamin von dem Dach. Er hatte immer einen guten Wurfarm gehabt,
einen besseren sogar als Poe, was der natürlich niemals zugegeben hätte.
    Kurz vorm Fluss erreichten sie die Farm der Cultraps, wo die Kühe
in der Sonne lagen, und sie hörten, wie in einem Nebenbau ein Schwein sehr
lange quiekte.
    »Hätt ich jetzt gut drauf verzichten können.«
    »Mist«, sagte Poe. »Cultrap macht den besten Speck hier.«
    »Trotzdem stirbt da grade was.«
    »Hör lieber auf mit dem Analysieren.«
    »Weißt du, dass die Schweineherzen nehmen, wenn sie Menschenherzen
reparieren? Weil die Klappen praktisch gleich sind.«
    »Dein Halbwissen werd ich echt vermissen.«
    »Ganz bestimmt.«
    »Ich übertreib bloß«, sagte Poe. »Sollte ironisch sein.«
    Sie gingen weiter.
    »Du hättest was gut bei mir, wenn du jetzt mitkämst.«
    »Ich mit Jack Kerouac junior. Klaut seinem alten Herrn vier Riesen
und weiß nicht mal, wo das Geld herkommt.«
    »Der ist ein Geizkragen mit Stahlarbeiterrente. Für den reicht’s,
jetzt, wo er nicht mehr alles meiner Schwester schickt.«
    »Die es wahrscheinlich brauchte.«
    »Die mit zehn Stipendien den Yale-Abschluss gemacht hat, während ich
zu Haus Klein-Hitler pflegen durfte.«
    »Armer Isaac, so wütend«, seufzte Poe.
    »Wärst du das nicht?«
    »Na, um dich an der Weisheit meines Vaters
teilhaben zu lassen, ganz egal, wohin du gehst, am Morgen sieht dich aus dem
Spiegel immer noch dieselbe Fresse an.«
    »Ein großes Lebensmotto.«
    »Hat schon viel erlebt, der Alte.«
    »Da hast du wohl recht.«
    »Komm, alter Spinner, lass.«
    Sie bogen nordwärts ab, am Fluss entlang in Richtung Pittsburgh;
südlich lagen Forst und Kohlebergbau. Kohle, deshalb Stahl. Dann kam das
nächste alte Werk mit Schornstein, das warnicht nur Stahl, das waren
Dutzende kleinerer Industrien, die den Stahlwerken zuarbeiteten und von ihnen
abhingen; Schneiden und Pressen, dann Spezialbeschichtungen, Bergbauausrüstung,
eine lange Liste. Das System war recht komplex, und als die Werke dichtmachten,
da brach das ganze Tal zusammen, dessen Herz der Stahl gewesen war. Er fragte
sich, wie lange es dauern würde, bis alles zu Rost zerfiel, das Tal zu einem
primitiven Urzustand zurückkehrte. Allein der Stein würde fortdauern.
    Hundert Jahre lang war dieses Tal der wichtigste Stahlproduzent des
Landes gewesen, der ganzen Welt sogar, doch in der Zeit seit Poes und Isaacs
Geburt hatte die Gegend hundertfünfzigtausend Arbeitsplätze eingebüßt – und
viele Städte waren kaum noch handlungsfähig; manche hatten keine Polizei mehr,
nicht mal das. Wie Isaac einst seine Schwester zu jemandem von der Uni hatte
sagen hören: »Eine Hälfte wurde zu Sozialhilfeempfängern und die andere wieder
zu Jägern und Sammlern.« Was übertrieben war, aber nicht sehr.
    Kein Anzeichen für einen Zug, und Poe ging einen Schritt voraus, vom
Fluss her war der Wind zu hören und das Schotterknirschen unter ihren Füßen.
Isaac hoffte auf einen langen Zug, den all die Windungen des Flusses zum
Verlangsamen zwingen würden. Kürzere Züge fuhren deutlich schneller; die zu
nehmen war gefährlich.
    Er betrachtete den Fluss mit seinem trüben Wasser, fragte sich, was
da wohl alles drunter lag. Diverse Schichten, aller möglicher Schrott in dem
Schlick begraben, Traktorteile, Dinosaurierknochen. Du bist nicht ganz unten,
an der Oberfläche auch nicht recht. Dir fällt es schwer, die Dinge zu erkennen.
Daher auch der Schwimmversuch im Februar. Das Ausnehmen des Alten. Als wär es
Tage her, dass du zu Hause warst, dabei sind’s höchstens zwei, drei Stunden; du
kannst immer noch zurück. Nein. Es gibt vieles, das noch schlimmer ist als
Stehlen, sich zum Beispiel selber zu belügen, darin sind sie Meister, deine
Schwester und der Alte. Tun, als wären sie die letzten lebenden Seelen.
    Während du nach deiner Mutter kommst. Bleib nur, dann bist auch
du bald für die Klapse reif. Den Balsamierungstisch. Im Februar aufs Eis zu
tappen, wie ein Schock, die Kälte. So kalt, dass du kaum mehr atmen konntest,
aber du bliebst da, bis nichts mehr weh tat, so ist sie da reingerutscht. Halt
aus, eine Minute, und schon wird dir wieder warm. Da lernst du was fürs Leben.
Hochgekommen wärst du heut noch nicht – April –, auch wenn der Fluss jetzt
wieder wärmer wird und mit ihm das, was in dir lebt, ohne dein Wissen, leise,
und das ist es auch, was
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