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Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen
Autoren: Anna-Maria Prinz
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ihrer Mutter, fand Marie unangemessen, was sie aber im selben Moment als unangemessen egomanisch und sowieso hausgemacht entlarvte. Komm her, mein kleines Lockenbaby, dachte sie, stand auf, strich Pasi über die Wange und zog sich mit ihr in deren Schlafzimmer zurück, wo sie bis zum Morgengrauen Locken streichelte, Kindertränen laufen ließ, wieder abwischte und wieder laufen ließ, bis keine mehr kamen.

27
    Torten und Dixie sind besser als Retorten und Schlager
    Zwei lange Holztische bogen sich unter selbst gebackenen Torten, Kuchen, unter Gratins, Salaten, Suppen und Chilies, rosa Cremes und angeschlagenem Geschirr. Am Kopfende war ein lustig-bunter mexikanischer Altar aufgebaut, was Flipp, der Sohn des Hauses, mit einer Mexikanerin verheiratet, arrangiert hatte. Daneben stapelten sich Hunderte von Plastikpinnchen. Alle Gäste sollten von dem schwarz gebrannten Obstler probieren. Und alle taten es, selbst Maries Mutter. Man lachte, erzählte Geschichten, hielt inne in der leeren Werkstatt, besann sich, sah zum Himmel, bis jemand mit einer neuen Geschichte kam, und lachte wieder. Vor einer Stunde hatten sie Lilie zu Grabe getragen.
    Es war der sonnigste Tag, den das Jahr bisher zu bieten hatte. Jedenfalls kam es Marie so vor. Der Himmel war hellblau, ganz weit weg standen ein paar Schäfchenwölkchen, die sich nicht aufbäumen würden, um dieses fidele, erhabene Fest zu stören.
    Einen derartigen Menschenauflauf dürfte das verschlafene Dorf nie zuvor verzeichnet haben; viele waren gekommen, ihren Freund auf dem letzten Weg zu begleiten. Die Kirche war brechend voll, man drängte sich auf den Bänken und stand in den Gängen. Marie saß am Gang – selbst hier hatte sie sich nicht überwinden können, einen Mittelplatz ohne direkteFluchtmöglichkeit zu wählen –, neben ihr ihre Geschwister, dann ihre Mutter und Martin mit den Kindern. Ganz vorn saß Maries »Kindheit«: Lilies Kinder, mit denen sie Schafwettrennen veranstaltet und mitten im Sommer im Wald Lagerfeuer entfacht hatte und erwischt worden war, mit denen sie jahrelang Pilze, insbesondere Stinkmorcheln, suchen gewesen war. Die, mit denen zusammen sie häufig Lilies Zorn auf sich gezogen hatte. Einmal hatten sie zusammen Prinzessinnenbilder aus Märchenbüchern abgepaust, sie dann stolz Lilie, dem Künstler, präsentiert, der davon wenig gehalten hatte und seiner gespannt erwarteten Meinung mit dem Wort »Scheiße« Ausdruck verliehen hatte. »Kuck dir doch mal deine Scheiße an!«, hatte Pauli ihn geistesgegenwärtig angebellt. (Da hatte Lilie gerade einen großen Kunstpreis bekommen.)
    Die Dixie-Kapelle setzte ein. Liesel war inzwischen weißhaarig. Sie sah schön aus, wie immer, ein bisschen krumm von der Hofarbeit, aber schön. Vor der Kirche hatte sie erzählt, dass sie – es war gerade zwei Wochen her – mit Lilie Dixie-Musik im Radio gehört hatte, und Lilie, der sich so gut wie nie zu Musik geäußert hatte, gesagt habe, solche Musik wolle er in ferner Zeit auf seiner Beerdigung hören. Es war ein Kraftakt gewesen, aber die Kinder hatten es geschafft, das auf die Schnelle zu organisieren. So schnell.
    Lilies Sarg war gleichzeitig der schlichteste und schönste, den man sich denken konnte – schmal, nicht sehr groß, aus Kiefernholz gezimmert und von den Enkeln kunterbunt mit Blumen, Pilzen, Bäumen, Flugzeugen, Wolken und Engeln bemalt. Ja, dachte Marie, wenn Lilie schon auf diese Reise geht, dann nur so. Im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte eine Fete feiern, der Lebendigkeit zuprosten, um irgendwann weinselig und glücklich ins Bett zu fallen und nicht mehr aufzuwachen. Das war wünschenswert undnicht zu toppen. Wahrscheinlich hatte er sich diesen vortrefflichen Abgang im Laufe seines Lebens verdient.
    Nach der Zeremonie schritten die Musizierenden voran, dahinter gingen Flipp und drei Studenten mit dem Sarg auf den Schultern, Liesel, die Familie, gefolgt von all den anderen, die diesen Tag nicht wahrhaben wollten. Der Weg zum Friedhof war lang und schön. Marie gab der weißen Rose, die sie in der Hand hielt, einen Kuss.
    Lilie hatte es gut getroffen, sein Grab befand sich nicht weit von einer Birke entfernt, ganz ruhig gelegen. Ein trefflicher Platz, um ewig zu schweigen.
    Als sie nach Hause fuhren, Marie saß hinten im Wagen, ertastete sie in ihrer Handtasche die kleine Feile, die sie in der Werkstatt vom Arbeitstisch genommen hatte. Sie fühlte sich an, als sei sie noch handwarm.
    Zwei Tage später, im Hunsrück, war
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