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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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rief ich einen Freund an, mit dem ich mich vor dem »Büyük Sinema« treffen wollte. Als ich dort auf ihn wartete, sah ich plötzlich meinen Onkel Gökhan. Mir wurde klar, dass mein Freund mich verraten hatte, und ich begann zu laufen. Mein Onkel holte mich aber ein und brachte mich nach Hause.
    Als ich daheim das Wohnzimmer betrat, saßen mein Vater und die drei Geschwister bei Tisch. Mein Vater sah mich kurz an und rief dann in die Küche: »Şükriye, leg noch einen Teller auf!« Während dieses Essens schämte ich mich unendlich. Meine kleinen Geschwister warfen mir flüchtige Blicke zu, wagten aber nichts zu sagen. Das ganze Essen über wurde kein Wort gesprochen; meine Familie bestrafte mich mit Schweigen. Anschließend wurde zur Tagesordnung übergegangen. Ich stürzte mich auf meine Schulbücher und schaffte es schließlich, die Klasse nicht wiederholen zu müssen. Eskihisar und Hannibal verblassten allmählich.

 
    I   ns Bewusstsein gebracht wurde mir die Frage erstmals durch Luis Megino, einen freundlich dreinschauenden, bärtigen spanischen Filmproduzenten.
    »Habt ihr nicht in eurer Kindheit eine Krankheit oder so etwas gehabt und seid deswegen anders gewesen als die anderen Kinder?«
    Wir saßen in Berlin in einem norwegischen Restaurant und tranken eiskalten Linie-Aquavit. Ich war Vorsitzender des Auswahlkomitees für den Europäischen Filmpreis, und außer Luis waren Jurymitglieder aus Russland, Belgien, Island und den Niederlanden um den Tisch versammelt. Wir fragten Luis, was er mit seiner seltsamen Frage bezwecke.
    »Denkt doch erst mal nach«, sagte er, »ich erkläre es euch hinterher.«
    Nach und nach trudelten die Bekenntnisse ein, und es stellte sich heraus, dass in der Jury aus Drehbuchautoren, Regisseuren und Schauspielern jeder Einzelne in seiner Kindheit eine schlimme Krankheit oder Operation durchgemacht hatte, die ihn von anderen Kindern abgesondert hatte.
    »Seht ihr«, sagte Luis, »hat schon wieder gestimmt! Ich stelle diese Frage schon seit fünfundzwanzig Jahren, und ich habe noch keinen Künstler getroffen, dem als Kind nicht so etwas passiert wäre.«
    Luis zufolge entwickelten Menschen, die keine normale Kindheit durchlebten und sich anders wahrnahmen als andere Kinder, dadurch bestimmte Neurosen, durch die sie irgendwann zum Künstlerischen gedrängt wurden. Deshalb seien alle Künstler Neurotiker und die Kunst nichts anderes als der Ausdruck einer Neurose. Luis scherzte dann, er werde bald einen Film produzieren mit dem Titel »Neurotiker aller Länder, vereinigt euch!«.
    Durch seine Frage wurden wir alle in unsere Kindheit zurückversetzt. Im Aquavit-Nebel tasteten wir nach alten Erinnerungen. Mir war so vieles widerfahren, das mich von anderen Kindern abgesondert hatte, dass ich das bislang als Normalzustand angesehen hatte. Ich war mir immer anders vorgekommen als meine Schulkameraden. Keinem Sport und keinem Spiel konnte ich mich so hingeben wie sie. Ich beneidete sie immer um diesen Eifer, den ich nicht aufbrachte. Meist tat ich dann so, als sei ich genauso bei der Sache, und bemühte mich um einen coolen, abgebrühten Tonfall. Nur leider wirkte das nicht bei mir. Ich hatte nun mal einen Hang zu langen Sätzen und detailreichen Erklärungen. Hart tat ich mich auch mit Schimpfwörtern, und meine ganze Schulzeit habe ich mich abgesehen von etwas Geschubse nie mit jemandem geprügelt. Das Anderssein war mir so zur Natur geworden, dass ich gar nicht darüber nachdachte.
    Auf Luis’ Frage hin fiel mir wieder ein, wie oft ich als Kind operiert worden war. Ich war ein Frühchen gewesen, mit gerade mal 1300 Gramm, und noch dazu hatte sich die Nabelschnur um meinen Hals gewickelt. Als ich auf die Welt kam, war ich ein violettes Stück Fleisch, das nicht atmen konnte. Durch das Geschick der Hebamme blieb ich am Leben, doch sollte meine »violette Geburt« eine ganze Reihe von Operationen zur Folge haben. Einbis zweimal pro Jahr wurde ich mal hier und mal da operiert. Und als wäre es damit noch nicht genug, sorgte ich später auch selbst noch für Ungemach.
    Als ich in der Mittelschule war, wohnten wir in dem Viertel Bahçelievler im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses. Mein Vater war damals Gerichtsinspekteur und kam nur alle zwei Monate nach Hause. Mit uns vier Kindern und unserem Pflegekind Huriye hatte meine Mutter es nicht gerade leicht. Da ich zu viele Dummheiten anstellte, wollte sie mich zu Haus einsperren, aber ich sprang einfach vom Balkon und machte mich
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