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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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schmiedete. Er verfügte über eine starke Hausmacht irgendwo in Anatolien, zeigte hin und wieder, dass er noch ein Mensch war, in dem er aufbrausend oder rührselig wurde, und konnte nichts mit Romanen, Gedichten oder Musik anfangen; höchstens dass er mal ein Kneipenlied aus seiner Jugend murmelte, wenn ihm bei einer Feier ein Mikrofon hingehalten wurde. Das Weltgeschehen blieb ihm fremd. Schaffte er es bis ins Parlament oder gar auf einen Ministersessel, so gewöhnte er sich einen bräsigen Tonfall an und redete von sich selber nur noch im Plural. Wenn er Leuten begegnete, ließ er sich zu einem »Wie geht’s?« herab und war dann auch schon wieder weg, ohne eine Antwort abzuwarten, und beim Händeschütteln schaute er den Leuten nicht einmal ins Gesicht. Wovon er etwas verstand, das waren die Bedingungen, unter denen lukrative Staatsaufträge vergeben wurden.
    Er verkehrte in einer Männerwelt und saß auch abends meist noch mit Männern zusammen. Die wenigen Frauen, die sich in die Politik wagten, waren für ihn wundersame Wesen, so ganz anders als die Ehefrau, die er zu Hause hatte, und er wusste nicht, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte.
    Sein Umfeld war aber auch in höchstem Maße dazu geeignet, ihm den Kopf zu verdrehen. Gepanzerte Limousinen, Personenschützer, Reisen, Empfänge, Einweihungen, Schlagzeilen und dazu die vielen Bürokraten, die um ihn herumschwirrten, und die ehrerbietigen Parteifunktionäre, die sich schon fast entschuldigten, überhaupt die gleiche Luft zu atmen wie ihr Vorsitzender. Um da nicht allmählich abzuheben, bedurfte es schon eines gehörigen Maßes an Standfestigkeit. Den meisten aber wurde von ihrem raschen Aufstieg schwindlig. Sie konnten es erst gar nicht fassen, so weit gekommen zu sein, aber schließlich trat ein Gewöhnungseffekt ein, der sie glauben ließ, die Weltordnung sei nun mal so gefügt und sie selbst dazu geschaffen, darin eine führende Rolle einzunehmen.
    Wenn zu meinen Konzerten erfreulicherweise auch Zuhörerinnen mit Kopftuch kamen, so war mein Publikum doch ziemlich eindeutig links orientiert, und so kamen auch die Offerten, die mir mit der Zeit gemacht wurden, vor allem von linken Parteien. Die SHP , der ich am nächsten stand, hatte 1994 nach eigenen Einschätzungen in Istanbul gerade noch ein Wählerpotential von acht Prozent Durch die hohe Zuwanderungsquote gab es in den Außenbezirken Istanbuls Millionen von Menschen, die vom Kuchen der großen Stadt etwas abhaben wollten, und am eifrigsten bemühte sich um diese Massen die islamistische Refah-Partei, die behauptete, dass in der Moschee die Klassenunterschiede aufgehoben seien, wenn der Firmeninhaber und der anatolische Migrant auf dem gleichen Gebetsteppich knieten. Die Linke dagegen war heillos zerstritten. In dieser Situation verfiel die SHP auf den Gedanken, mich als Bürgermeisterkandidaten aufzustellen.
    Wie ich damals in die Politik hineinrutschte, lässt sich am besten anhand des Flugzeugs versinnbildlichen, in das ich damals stieg, um in Ankara das Angebot der SHP abzulehnen. Die Landepiste in Ankara war schneebedeckt, und nachdem das Flugzeug aufgesetzt hatte, raste es mit fast unverminderter Geschwindigkeit dahin, da es ins Schlittern gekommen war. Ich verkrampfte mich in meinem Sitz, bis der Pilot ganz am Ende der Piste mit einer Vollbremsung den Airbus zum Stehen brachte, der sich dabei um 180 Grad drehte.
    Mir gelang damals in Ankara die Vollbremsung nicht. Ich ließ mich breitschlagen und nicht nur das: Sobald ich ernsthaft ins Auge fasste, Bürgermeister von Istanbul zu werden, kamen mir auch gleich die kühnsten Gedanken. Hatte ich mich nicht schon oft gefragt, warum die Behörden sich um diese und jene Missstände nicht kümmerten? Was würde ich zusammen mit einem guten Team nicht alles ausrichten können!
    Mir schwebte Istanbul als internationales Kulturzentrum vor. Durch die Veranstaltung von Künstler- und Intellektuellentreffen und wissenschaftlichen Kongressen und durch einen permanenten Austausch mit dem Rest der Welt würde Istanbul sich auch in den Köpfen seiner Bewohner als Weltstadt festsetzen.
    Für mich war das nicht nur ein Traum. Eine ganze Reihe von Personen wie etwa Alvin Toffler, Michail Gorbatschow, Peter Ustinov oder Federico Mayor würden mir helfen können, Istanbul am Reichtum der Welt teilhaben zu lassen. Als Allererstes aber musste dafür gesorgt werden, dass Istanbul nicht noch weiter zur Industriestadt verkam, denn einen schlechteren Dienst
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