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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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geschlagen. Wir traten also gemeinsam auf, und ich dachte, mich damit aus der Affäre gezogen zu haben, aber da setzte Joan zu ihrem zweiten Hieb an: »Jetzt kommst du auch mit zu dem Konzert in Izmir!«
    Wieder die gleiche Diskussion und wieder steckte ich eine Niederlage ein.
    Das zweite Konzert fand in dem herrlichen antiken Theater von Ephesus statt, das ich von eigenen Auftritten her schon sehr gut kannte. Wenn man in der Nacht von der Bühne zu den Zuschauern hinaufblickt, sieht man nur die vielen Kerzen, die dort immer brennen und irgendwann in den Sternenhimmel übergehen.
    Die Kulissen des Theaters sind allerdings eine Katastrophe. An den Türen zu den als Umkleidekabinen benützten niedrigen Kellergewölben stößt man sich unweigerlich den Kopf an, und zudem kriechen dort unten Schlangen und Skorpione herum. Einer meiner Produzenten beichtete mir später einmal, vor einem meiner Konzerte habe er aus meiner im Umkleideraum hängenden Weste eine Schlange herausgleiten sehen, doch um mich nicht zu beunruhigen, habe er nichts gesagt.
    Wir schafften es, Joan Baez heil auf die Bühne zu bringen, aber da war sie auch noch nicht sicher, denn mitten im Konzert warf ein Mann einen Blumentopf auf Joan, der direkt vor ihr zersplitterte. Dann zog der Mann auch noch eine Pistole, wurde aber zum Glück von Sicherheitskräften überwältigt.
    Noch während des Konzerts, als ich zusammen mit ihr auf der Bühne stand, erkundigte Joan sich besorgt nach dem Täter und wollte ihn danach auch nicht anzeigen.
    Wenn ich mit ihr zusammenarbeitete, spürte ich immer, dass bei ihr die Musik direkt aus dem Herzen kam. Sie singt noch heute von Freundschaft, Frieden und Freiheit und verzaubert uns mit ihrer so ganz besonderen Stimme. Die Musikkultur, die sie zusammen mit Bob Dylan geschaffen hat, beeinflusste mehrere Generationen, und es ist kein Wunder, wenn ihr Name immer wieder in amerikanischen Romanen auftaucht, denn sie ist zum Symbol für Amerika und für eine ganz bestimmte Zeit geworden.

 
    N   achdem ich in der Türkei wieder etabliert war, brachten die Umstände auch ein Engagement in außerkünstlerischen Bereichen mit sich. Als Zafer Mutlu, der Inhaber der Zeitung Sabah , mich für eine regelmäßige Mitarbeit gewinnen wollte, reagierte ich zunächst zurückhaltend, doch ein Ereignis stimmte mich schließlich um. Als wieder einmal eines meiner Konzerte verboten werden sollte, klagte ich ihm mein Leid, daraufhin rief er beim Gouverneur von Istanbul an und erwirkte tatsächlich eine Aufhebung des Verbots. Mitzuerleben, wie da zum ersten Mal jemand seine schützende Hand über mich hielt, war für mich von einschneidender Bedeutung. Ich sagte daraufhin eine Tätigkeit als Kolumnist zu und konnte von da an mehrmals wöchentlich eine große Leserschaft erreichen, ohne dass mir irgendjemand in meine Artikel dreinredete.
    1996 hatte ich eines der erschütterndsten Erlebnisse meines ganzen Daseins. Im Bayrampaşa-Gefängnis in Istanbul wollten sich linke Gefangene zu Tode hungern, und ich gehörte zu einer kleinen Gruppe, die zwischen der Regierung und den Häftlingen vermitteln sollte. Als wir die Hungernden aufsuchten, waren sie bereits erschreckend abgemagert. Einige waren kaum mehr bei Bewusstsein und nicht mehr in der Lage, unsere Fragen zu beantworten. Mit verdrehten Augen lagen sie da, schon mehr im Jenseits als im Diesseits.
    Diejenigen, die noch reden konnten, lagerten im Halbdunkel, da jedes Licht sie blendete. Sie klagten über ein ständiges Dröhnen in den Ohren. Immer wieder versuchten sie, ihre schon wegdämmernden Kameraden zum Reden zu bringen.
    »Schau mal, wer ist das? Wer hält dir da die Hand?«
    Der junge Mann, vor dessen Bett ich stand, hob in unendlicher Anstrengung den Kopf und schaffte es schließlich, mir ins Gesicht zu sehen. Ihm huschte ein Lächeln über die Lippen.
    »Weißt du, wer das ist, erkennst du ihn?«
    Er nickte schwach.
    »Also, wer ist es?«
    Der Hungernde murmelte etwas. Wir beugten uns zu ihm hinunter und verstanden schließlich: »Dein Vater.« Einige Stunden später sollte er sterben.
    Ich sagte zu denen, die mir noch zuhören konnten: »Ihr zahlt hier einen viel zu hohen Preis. Das Leben ist etwas Heiliges.«
    Mit Grabesstimme gaben sie zurück: »Nein, der Preis ist nicht zu hoch. Wir opfern uns hier, um anderen noch Schlimmeres zu ersparen.«
    Neben den Betten saßen Krankenpfleger. Es herrschte eine bleierne Atmosphäre in den großen Zellen. Die Haut dieser blutjungen Menschen,
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