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Rocking Horse Road (German Edition)

Rocking Horse Road (German Edition)

Titel: Rocking Horse Road (German Edition)
Autoren: Carl Nixon
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Einzimmerwohnungen oder Altenheimen herbeigeschafft. Da gab es dann noch mehr Geschenke, diesmal eher aus der Spezies der Unterhosen und Socken. Später verspeisten wir das Mittagessen, das unsere Mütter schon Tage im voraus minutiös geplant hatten. Truthahn, Schweinebraten und eimerweise neue Kartoffeln waren viel zu schwer für einen so heißen Tag. Wir fühlten uns schon bald vollgefressen und träge, verputzten aber dennoch eine weitere Portion von Mamas Pavlova-Baisertorte oder Trifle. Den Christmas Pudding und das Eis aßen wir direkt aus der Packung, Weihnachten kamen wir damit durch.
    Doch bei alledem kehrten unsere Gedanken wieder und wieder zu dem Leichnam am Strand zurück. Es zerriß uns innerlich, die Bilder der toten Lucy vor unserem geistigen Auge zu sehen, während wir lustige Papphüte trugen und den Mund voller Pflaumensauce oder Truthahnfüllung hatten. Wir packten unsere neuen Rugbybälle oder Cricketschläger aus und erinnerten uns dabei an die Lage von Lucys Kopf auf dem Sand. Und unsere Gedanken schweiften zu den Ashers. Wir fragten uns, wie sie wohl Weihnachten verbrachten. Wir konnten uns das nicht einmal vorstellen. Unsere Eltern verloren kein Wort über Lucy oder die Ashers – zumindest nicht vor uns. Ein Gespräch über Lucys Ermordung war bei fast allen von uns schlicht unmöglich.
    Nur Bill Harbidge sprach darüber. Die Queen hielt gerade ihre Weihnachtsansprache, als Jases Vater ihm erklärte, daß es sehr clever von Lucys Mörder gewesen war, den Leichnam ins Wasser zu werfen. Das Wasser spülte sämtliche Spuren des Mörders weg: Körperflüssigkeiten (damit meinte er Sperma) und Fingerabdrücke. Jases Vater erzählte Jase – und der erzählte es uns weiter –, daß Lucy nicht tot war, als sie ins Wasser geworfen wurde, auch wenn derjenige, der sie gewürgt hatte, sie gewiß für tot hielt. Lucy Asher war nur bewußtlos. Sie hatte Wasser in den Lungen. Rein medizinisch betrachtet, war sie ertrunken.
    Wir trafen uns am Nachmittag des ersten Weihnachtstags in der Garage von Big Jim Turner, um diese Details zu erfahren. Das Festtagsessen lag uns noch wie ein Medizinball im Magen. Die Turners hatten kein Auto, deshalb stand ein windschiefer Poolbillardtisch in ihrer Garage. Außerdem lagerten sie da noch säckeweise Schafdung, den Jim auf Geheiß seines Vaters jeden Herbst in den sandigen Gemüsegarten einarbeiten mußte. Immer hing eine Geruchswolke aus Wolle und Schafmist in der Garage; ein Geruch, den wir schließlich sogar mochten. Hinter der Seitentür hing eine Dartscheibe, und es gab eine Trainingsbank mit schweren Eisenhanteln, mit denen wir unsere Kräfte maßen, während wir darauf warteten, am Billardtisch an die Reihe zu kommen.
    An diesem Nachmittag redeten wir nicht nur darüber, wie Lucy gestorben war. An diesem Tag und die ganze Zeit bis Neujahr nahm die Art ihres Todes nur einen geringen Raum in unseren Gesprächen ein. Hier, in der Garage der Turners, fingen wir an, unsere Erinnerungen an Lucys Leben zu rekonstruieren. Roy Moynahan erinnerte sich, wie sich Lucy vor zwei Jahren die Lippe aufgeschlagen hatte. Das war in unserem ersten Jahr auf der Highschool, also in der 9. Klasse. Lucy hatte aus dem Wasserhahn vor der Schulbibliothek getrunken. Ein paar Jungs drängelten von hinten, und Lucy war mit dem Gesicht auf den Wasserhahn gefallen. Roy erzählte, wie das Blut an Lucys Kinn heruntergelaufen war, sie aber nicht geweint hatte. Ein oder zwei Tage lang klebte trockenes Blut an dem Hahn, bis es jemand abwusch.
    Ein anderer von uns berichtete, wie ein paar aufwendig gezeichnete Landkarten auf dem Spielplatz aus seinem Schnellhefter gefallen waren. Der Ostwind hatte sie weggeblasen. Lucy Asher und eine Freundin hatten geholfen, sie wieder einzusammeln.
    Lucy Asher auf dem Fahrrad unterwegs in die Schule an einem Regentag unter einem Himmel, der nicht höher war als die Betondecke eines Parkhauses. In unserer Erinnerung war der Saum ihres Kleides vollgesogen und dunkel vor Nässe, die von unten zischend hochspritzte. Der nasse Stoff klebte an ihren Schenkeln.
    Lucy, die aufzeigte, um dem Lehrer zu sagen, daß sie ihre Periode bekommen habe und die Schulkrankenschwester aufsuchen müsse. Wie die Jungen in ihrer Klasse alle hinter vorgehaltener Hand kicherten (das war eine Erinnerung aus zweiter Hand; sie stammte von Petes Bruder, Tony Marshall, der in Lucys Klasse gewesen war. Sie war nicht so authentisch und vertrauenswürdig wie unsere eigenen Erinnerungen, wurde
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