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Road of no Return

Road of no Return

Titel: Road of no Return
Autoren: Gillian Philip
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ebenfalls. Vielleicht konnte er das Lied nicht hören, vielleicht dachte er auch, er hätte noch genug Zeit.
    Ehrlich gesagt hatte er die Zeit. Ich konnte es nicht fassen, dass Allie nicht weiterrannte, ich konnte nicht fassen, dass sie einfach stehen blieb und ihre schwarzen, ernsten Augen auf Mickey heftete. Lauf, Allie, lauf, lauf!
    Ich hatte meine Meinung geändert, aber es nutzte auch nichts. Sie starrte ihn einfach an, die Arme gerade und die Hände zu Fäusten geballt. Und Mickey hielt inne.
    Ich wusste, dass Allie manchmal geradezu gespenstisch wirken konnte, aber ich dachte immer, das ginge nur mir so. Mickey hatte sicherlich nicht erwartet, dass sie stehen bleiben und ihn niederstarren würde. Trotzdem weiß ich nicht, warum er sie so ansah, dann einen Schritt zurück machte und mein Messer aus seinen kraftlosen Fingern fiel. Warum blieb er stehen? Er hätte es geschafft, wenn er nicht stehen geblieben wäre. Aber das dröhnende Lied und das Beben der Schienen musste ihn verwirrt haben, denn er blickte wie gelähmt auf seine Füße.
    Er war da und dann war er fort. War nicht mehr da. Der
Zug war da: für eine Sekunde, zwei, drei Sekunden. Das Aufblitzen erleuchteter Fenster, ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter, schwankende Geschäftsleute, den Hintern gegen die Lehne eines Sitzes gedrückt, den Daily Telegraph in der Hand. Das war es. Vorbei.
    Er musste bereits gebremst haben, so musste es doch sein, oder? Es muss einen Ruck gegeben haben, als der Fahrer gebremst hatte, und ein paar der Geschäftsleute waren bestimmt fluchend gestolpert. Niemand ahnt, wie schnell er eigentlich ist. Man zwinkert, und sie sind da, man zwinkert wieder, und sie sind weg. Der Zug musste gebremst haben, aber er war bereits weg.
    Ich sah Mickey nicht sterben, er war zu schnell für das menschliche Auge. Er starb mit zu hoher Geschwindigkeit, und außerdem konnte ich nicht klar sehen. Weiter hinten auf den Schienen, fast am Bahnübergang, blieb der Zug endlich stehen.
    Ich wollte nicht auf die Gleise sehen, falls er noch da war. Ich glaube es nicht, ich glaube, er wurde weiter mitgerissen und lag irgendwo unter dem Zug, vielleicht auch an mehr als einem Ort, aber ich wollte es nicht sehen. Stattdessen sah ich über die Schienen hinweg und suchte nach Allie, aber es war schwer, sie auszumachen, weil mir alles vor den Augen verschwamm.
    Als ich endlich klar sehen konnte, war auf der anderen Seite jemand bei ihr. Ein Junge etwa in Allies Alter, ein Junge mit strubbeligen blonden Haaren. Sie sprach nicht mit ihm – vielleicht war sie noch zu geschockt – und gleich darauf wandte er sich um und ging weg. Ich zwinkerte wieder, blinzelte
den Schweiß aus meinen Augen. Mit Mühe konnte ich die Augen wieder öffnen, doch als ich es geschafft hatte, war er weg.
    Wahrscheinlich wollte er nichts damit zu tun haben.

26
    »Es tut mir leid«, sagte Allie. »Es tut mir leid, dass ich weggerannt und dich allein gelassen habe.«
    Ich sah sie böse an. »Was soll das heißen, es tut dir leid? Ich habe mich gefragt, warum das so lange gedauert hat. Verstehst du einen leisen Hinweis nicht?«
    Sie rupfte eine weitere Weintraube ab, und als ich den Kopf schüttelte, aß sie sie selbst. Sie hatte schon fast die ganze Traube gegessen, genau wie die Schokolade, die Shuggie vorbeigebracht hatte.
    »Ich wollte dich nicht allein lassen«, fügte sie hinzu. »Aber er hat darauf bestanden. Er hat gesagt, ich müsse.«
    Ich biss die Zähne aufeinander. Ich brauchte nicht erst fragen, wer sie dazu überredet hatte, zu rennen: Mickey war es ganz sicher nicht gewesen. Na ja, zumindest war ihre Wahnvorstellung wenigstens einmal zur rechten Zeit gekommen. »Kannst du dich nicht auf einen Stuhl setzen? «
    »Nee, hier ist es bequemer.« Sie klopfte auf die Matratze, tätschelte mir die Hand und sah auf das Krankenhausarmband. Dann griff sie gelangweilt nach dem Krankenblatt. »Hier steht, dass du noch einen Monat zu leben hast. Willst
du Robbie Williams, wenn sie dich raustragen, oder ist das zu sehr Klischee?«
    »Ha, ha, wie witzig«, fand ich.
    »Sorry.« Sie lächelte mich an, ihre braunen Augen blitzten unter ihrem Pony hervor. Man sollte nicht glauben, dass sie so schwarz und furchterregend sein konnten.
    »Allie, warum bist du stehen geblieben?«
    »Ich bin nicht stehen geblieben.« Sie lachte leise und kehlig. »Mickey ist stehen geblieben.«
    Die Zufriedenheit in ihrer Stimme ließ mich schaudern. Ich erinnerte mich daran, was sie über Aidan gesagt
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