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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
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zu tun, und... was noch viel wichtiger ist« – hier breitete er die Hände mit der schwungvollen Gebärde eines alternden Charakterdarstellers aus – »für jeden armen, bedauernswerten Menschen, der ebenso leidet wie Ihr Gatte, Katherine.« Mit festem Blick sah er sie an. Er sprach jetzt langsamer, schraubte sein Redetempo herunter, bis jedes Wort ein eigener Absatz hätte sein können. »Und für jede Frau, die mit ihrem Gatten leidet.«
    Die Worte des Arztes hingen einen Augenblick lang im Raum, während der Regen gegen die Scheiben prasselte und die Wachsmodelle – Corpus callosum, Medulla oblongata, Epiphyse – leuchteten, als wären sie zum Leben erwacht. Ganz leise, so leise, daß O’Kane gar nicht sicher sein konnte, ob er ihn wirklich wahrgenommen hatte, ertönte der verstörte Schrei des Schürzenmannes über das regennasse Gelände. Und dann, urplötzlich und ohne Vorwarnung, begann Mrs. McCormick, Katherine, die Eisprinzessin, zu weinen. Zuerst holte sie hörbar Luft, so als hätte jemand sie mit einer Nadel gepikt, dann schmolz das Eis, und im nächsten Moment heulte sie sich die Seele aus dem Leib.
    Sie versuchte das Gesicht unter der Hutkrempe zu verbergen und beugte sich vor, um in ihrer Handtasche nach einem Schnupftuch zu suchen, doch O’Kane sah dieses Gesicht nackt und wie verwandelt, zerdrückt wie eine Blume, und er sah in den großen, verschlossenen Augen den Schmerz erblühen. Für ihn war es eine Offenbarung: sie war trotz allem ein Mensch, ja mehr als das, sie war eine Frau, durch und durch, und nie war sie mehr Frau gewesen als in diesem Moment. Ihre Schultern bebten, ihr Atem ging keuchend, und als ihre Mutter den Arm ausstreckte, um sie zu trösten, spürte O’Kane, wie etwas in seinem Inneren nachgab. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte das Kommando übernommen, sie angefaßt und bei der Hand ergriffen, aber er saß nur schwitzend auf seinem Stuhl, während das Feuer knackte, ihr das Weinen in der Kehle steckenblieb und der Arzt die Hände rang, und murmelte leise: »Schon gut, schon gut«, wieder und immer wieder, wie ein Idiot.
    Und dann blickte sie auf, die Flammen spiegelten sich im Schimmer ihrer Augen und beschienen ihr nasses Gesicht, so daß es an das Antlitz einer gepeinigten Märtyrerin unter den Menschenfressern erinnerte. Als sie nach einer langen, qualvollen Weile endlich sprach, klang ihre Stimme sehr leise und dünn, so dünn, daß sie kaum zu hören war. »Sie wollen also bei Ihrem Verbot bleiben?«
    Hamilton war überrascht. Er tastete hinter sich nach der Schreibtischkante, ließ sich einen kurzen Moment lang darauf nieder und fuhr dann wie elektrisiert wieder hoch. »Was für ein Verbot? Wovon sprechen Sie?«
    Mit winziger, kläglicher Stimme: »Keine Besucher.«
    Hamilton richtete sich auf und stieß einen so tiefen, rasselnden und kummervollen Seufzer aus, daß man meinen konnte, es habe ihm gerade die Lungen von innen nach außen gekrempelt. Seine Augäpfel tanzten und tanzten gleich noch einmal. »Tut mir leid.«
    »Nicht einmal seine Frau?«
    Doch Hamilton schwang bereits den Kopf von rechts nach links wie ein menschliches Metronom, und O’Kane, der in gebannter Stille wie festgenagelt auf seinem Stuhl saß, konnte das Doppelkinn sehen, das der Arzt in weiter Zukunft als Markenzeichen höchster Seriosität vor sich hertragen würde. Der Mann war ein Meister im Verhandeln, und er wußte genau, wann es nachzugeben und wann es hart zu bleiben galt. »Nicht einmal seine Frau«, sagte er.
    Lange nachdem Hamilton verschwunden war und Nick und Pat Thompson sich aus Gründen der ehelichen Harmonie entschuldigt hatten, saß O’Kane mit Martin, dem dritten und jüngsten der Thompson-Brüder, vor einem Bier und einem Teller mit kalten Bohnen in Tomatensoße, gekochten Eiern, Salzhering und Cracker. Es war nach neun, und in der Kneipe wetterten die Lichter und der Lärm gegen den kalten Regen und die leblosen Straßen draußen an. O’Kane schlug ein Ei auf und fühlte sich dabei selbst wie weichgekocht von all dem gesegneten Whiskey und dem guten, reinigenden Boston-Bier, das durch seine Adern rann, und er schälte dieses Ei, als wäre es der kostbare, zerbrechliche Schädel eines Säuglings – oder eines Affen. Mart, dessen Augen glänzten und dem die Haare vom Scheitel abstanden wie einem Moorhuhn die Federn, betrachtete ihn dabei so hingerissen, als hätte er etwas Derartiges noch nie gesehen. Er hatte einen breiten Schädel und breite Schultern wie
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