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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
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seine Brüder, aber er war noch jung – gerade erst zwanzig –, und vom Brustkorb abwärts war nicht viel an ihm dran. O’Kane schob die Eierschalen auf dem nackten Wirtshaustisch sorgfältig zusammen, ein Stück nach dem anderen, dann biß er das blanke Ei entzwei und spülte es mit einem Schluck Bier hinunter.
    »Ich muß jetzt los«, sagte Mart seufzend. »Wenn ich morgen zur Arbeit kommen will.«
    O’Kane antwortete: »Ja, ich weiß, was du meinst«, aber das war reine Formsache. Er selbst wollte nicht aufbrechen, noch nicht. Er wollte lieber... sein Ei aufessen, um etwas im Magen zu haben, und dann noch ein Bier trinken. Allerdings keinen Whiskey mehr: davon hatte er genug. Soviel war ihm klar.
    Rosaleen würde auf ihn warten. Oder nein: sie wartete seit drei Stunden oder länger auf ihn und lauerte ihm mittlerweile auf wie eine Attentäterin, fuchsteufelswild und zur Weißglut gereizt, ihre Stimme schlug dann immer jene andere, höhere, schrillere Tonlage an, die anklagende, die schmähende, Schuld einflößende Tonlage. Einen Trunkenbold und einen Emporkömmling würde sie ihn nennen, eine Marionette der McCormicks, sie würde seinen Tweedanzug verhöhnen und lautstark über Kalifornien lästern.
    »Noch eins?« fragte O’Kane.
    Irgendwer am Tresen hinter ihm – er verzichtete darauf, sich umzudrehen – brüllte gerade: »Du verdammter Narr, hätt ich gewußt, daß du das Ding einsalzen würdest, anstatt es zu räuchern oder wenigstens zu dörren, zum Teufel noch mal, dann hätt ich den Kadaver doch lieber einem Waisenhaus gespendet.«
    Mart schien seltsam lange für eine Antwort zu brauchen. Seine Augen waren klein und wirkten im Verhältnis zu seinem ungeschlachten Schädel noch kleiner, und als O’Kane hoffnungsfroh in sie hineinblickte, vor sich im Geiste schon das gelbliche Prickeln eines letzten schalen, hinauszögernden Biers, da sah er nichts als zwei mattgraue Pünktchen, schwach sichtbare Himmelskörper im All dieses riesigen dumpfen Gesichts, die sich rasch entfernten. Mart zuckte die Achseln. Kratzte sich am Bein. »Wieso eigentlich nicht?« sagte er schließlich, und seine Aussprache hätte klarer sein können, wesentlich klarer. »Gut«, sagte er. »Klar doch. Eins noch.«
    Es war die Neige ihres Freudenfestes: halbvolle Gläser, kalte Bohnen mit Hering, das Gebrüll und der Gestank unmäßig trinkender Fremder, die sich auf allen Seiten um sie drängten, die tote, ausgewaschene Aprilnacht, der Regen, der die Scheiben hinuntergeiferte – vor allem aber war da der immer noch in der Luft hängende bierselige Glanz ihrer goldenen Kalifornien-Bruderschaft. In zwei Wochen würden sie in einem eigenen Eisenbahnwaggon aufbrechen – einem Waggon namens Mayflower , speziell angefertigt von der Pullman Company, mit verriegelbaren Türen und gesicherten Fenstern, und war O’Kane etwa der einzige, dem die reine, strahlende Schönheit dieses klingenden Namens auffiel? Ein Omen war es, nichts anderes. Sie waren die Pilgerväter, sie würden Plymouth Rock und North Boston und Waverley verlassen für das Paradies im Westen, für Hibiskus und Jasmin, für die Mandarinen und Orangen und Datteln, die dort von den Palmen regneten, einfach nur zur Belohnung dafür, daß man auf der Welt war.
    Nie wieder würden sie einen Eimer Kohlen kaufen müssen, solange sie lebten. Und Mäntel – ihre Mäntel konnten sie wegwerfen, und die mottenzerfressenen Schals und Handschuhe gleich hinterher. Und falls das alles noch nicht reichte: ihre mageren McLean-Gehälter würden in dem Moment verdoppelt, da sie mit Mr. McCormick in den Zug stiegen. Das bedeutete vierzig Dollar pro Woche für O’Kane, und er hoffte nur, daß all die Grapefruit-Farmer, Cowboys, Erdölbarone, Hidalgos und Señoritas von Santa Barbara ihm etwas übrigließen, für das er sie ausgeben konnte. Wenn er der Phantasie kurz freien Lauf ließ, dann spürte er diese vierzig Dollar schon in seiner Tasche, zwei Zehner und ein Zwanziger, oder auch vier Zehner oder acht Fünfer. Vierzig Scheine aus festem grünem Papier oder ein klimpernder Sack voll Silbermünzen. Er fühlte sich, als hätte er in der Lotterie gewonnen.
    Doch dann dachte er wieder an Rosaleen – hatte sie so lebendig vor Augen, als stünde sie direkt vor ihm und durchbohrte ihn mit Blicken, die Kiefer vor Wut und Entrüstung aufeinandergepreßt, mit neunzehn bereits eine fette Matrone, und immer wollte sie mehr, mehr, mehr von ihm, als wäre er ein Dukatenscheißer – oder einer der
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