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Ritualmord

Titel: Ritualmord
Autoren: Mo Hayder
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und traurig zugleich aus, alt und weise. »Es bedeutet, dass es nicht zu spät ist. Es ist noch nicht zu spät für Sie. Sie können es sich noch anders überlegen. Sie können immer noch ein anderes Kind lieb gewinnen. Sie« - er schaute Caffery tief in die Augen, und in seinem Blick lag eine unentrinnbare Wahrheit -, »Sie, Jack Caffery, Polizist, können immer noch lieben. Ein Kind, das es vielleicht geben könnte.«  

     
         57
     
    18. Mai
    Es war dunkel, als sie nach Hause kam, und die Schatten der Wolken, die vor dem Mond dahinzogen, streiften wie Raubtiere über den Hügel. Flea war erschöpft und hungrig, und sie parkte den Wagen mit dem Heck zum Tal, um sie nicht zu sehen. Die kugelsichere Weste und die Jeans, die sie getragen hatte, waren von der Spurensicherung konfisziert worden; sie hatten ihr ein Polizei-Sweatshirt und eine Combathose geliehen, und in ihrem Wagen lag nur noch ein Overall. Sie stopfte ihn in die Sporttasche und stieg aus, als sie ein flackerndes Viereck aus künstlichem Licht auf dem Kies sah.
    Sie drehte sich um, schaute an der hohen Fassade des Hauses der Oscars hinauf und sah gerade noch, wie dort ein Licht erlosch. In den leeren Fenstern spiegelte sich die hereinbrechende Nacht. Sie waren jetzt dunkel, aber Flea schien es, als bewegte sich in einem der Vorhang. Am Nachmittag, als das Team Tig, auf einer Trage angeschnallt, aus der Wohnung geschafft hatte - Caffery zum Trotz lebte er noch -, hatte sie einen der Kollegen auf dem kümmerlichen Gras vor der Wohnung stehen sehen. Er hatte zu den Fenstern des Hochhauses hinaufgestarrt. Als sie ihn fragte, was er da sehe, hatte er nur die Achseln gezuckt und mit leisem Schauder gesagt: »Keine Ahnung. Hab das Gefühl, ich werde beobachtet. Das sind die Fenster.«
    In dem Augenblick musste sie an die verbarrikadierten Fenster vor dem Badezimmer denken, an das Wellblech, das gerade so weit aufgebogen worden war, dass eine kleine Person sich hindurchzwängen konnte. Ein alberner Gedanke, denn alle, die sich in der Wohnung befunden hatten, saßen jetzt in Untersuchungshaft, aber jetzt fiel es ihr wieder ein, dieses Fenster und die Worte: Hab das Gefühl, ich werde beobachtet.  

    Wieder regte sich was bei den Oscars, vielleicht jemand, der vom Fenster zurücktrat. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, nach vorn zur Haustür zu gehen und dagegenzuhämmern, nach Katherine zu rufen und sie zu fragen, wann sie mit ihrer Schnüffelei aufhören wolle. Aber stattdessen atmete sie ein paarmal tief durch, hob die Hand und winkte, um ihnen zu zeigen, dass sie von ihrer Anwesenheit wusste und sich nichts daraus machte. In aller Ruhe holte sie die Sporttasche aus dem Wagen und schloss die Tür.
    Der elektronische Autoschlüssel war anscheinend defekt, er öffnete den Kofferraum nicht. Statt also ihre Tasche über Nacht dort zu deponieren, ging sie ins Haus und ließ sie drinnen auf den Boden fallen. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie Licht in der Küche am Ende des Flurs. Und es roch nach Essen, nach Ingwer, Zitrusfrüchten und Melasse. Sie wusste, wer da kochte, denn es gab nur einen, der das Versteck des Ersatzschlüssels kannte, eingeklemmt zwischen den Zweigen der Glyzinie. Kaiser.
    Sie sollte ihn ignorieren, nach oben gehen, sich aufwärmen, waschen. Aber sie zog die Ärmel des Polizei-Sweatshirts über ihre Hände und ging in die Küche. Kaiser stand am Tisch und schichtete Muffins in Papierschalen mit bloßen Fingern in eine Dose.
    »Hallo«, sagte er, ohne aufzublicken. »Ich habe die Melassedose draußen stehen lassen, damit du daran denkst, neue zu besorgen.«
    »Warum bist du hier?«
    »Oh«, sagte er leichthin, »weil du mit mir sprechen willst. Es gibt Dinge, über die du noch nicht geredet hast.«
    Seufzend setzte sie sich vor dem Fenster an den Tisch und schob die Hände unter die Achseln. Sie beobachtete ihn bei der Arbeit. Er war ihr so vertraut, so vertraut und doch so fremd. Er trug immer noch das fleckige weiße Hemd, und obwohl sein großes afrikanisches Bocksgesicht abgewandt war, 
    sah sie, dass er geweint hatte. Sie sah auch, dass Dads Safe aus dem Arbeitszimmer neben der Dose auf dem Tisch stand. Kaiser musste ihn vom Regal genommen und dort hingestellt haben. Sie streckte die Hand danach aus und berührte ihn.
    »Kaiser?«, fragte sie. »Es hat etwas mit Nigeria zu tun, stimmt's? Was immer da drin ist, es hängt mit den Experimenten zusammen.«
    Kaiser unterbrach seine Arbeit und richtete den Blick auf sie. »Es
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