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Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Titel: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)
Autoren: Gerd Gigerenzer
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lassen die Frauen dabei gleichzeitig ihre Eierstöcke entfernen, was der männlichen Kastration entspricht, ungeachtet der Hinweise auf schwerwiegende Konsequenzen, einschließlich frühzeitigen Tod. Insgesamt schätzt man, dass an Amerikanern jedes Jahr 2,5 Millionen überflüssige Operationen vorgenommen werden. 62 Kein anderes Land geht so invasiv gegen die Körper seiner Bürger vor.
    Es gibt viel zu viele Rechtsanwälte in den USA , mehr pro Kopf als in irgendeinem anderen Land, ausgenommen Israel, und die Zahl der Jurastudenten nimmt ständig zu. Doch selbst in Ländern wie der Schweiz, in denen die Prozesssucht weniger ausgeprägt ist, ist die defensive Medizin im Aufstieg begriffen. Obwohl von 250 Schweizer Internisten nur die Hälfte der Meinung war, die Vorteile des PSA -Screening für Prostatakrebs überwögen seine Nachteile bei Männern über 50 Jahren, empfahlen 75 Prozent von ihnen diesen Patienten das regelmäßige PSA -Screening. Warum haben sie es trotzdem empfohlen? Viele Ärzte sagten, sie hätten es aus rechtlichen Gründen getan, um sich gegen potenzielle Klagen zu schützen – obwohl die Gefahr solcher Schadenersatzprozesse in der Schweiz gering ist. 63
    Jetzt können wir die Praxis definieren:
    Defensive Medizin: Ein Arzt verordnet klinisch nicht gerechtfertigte und für den Patienten möglicherweise sogar schädliche Tests oder Behandlungen aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen.
    Viele Ärzte haben Angst vor Rechtsanwälten oder sind sogar wütend auf sie. Deshalb mögen sie Anwaltswitze. Hier ein Witz, den mir ein Chirurg mit hämischem Grinsen erzählt hat:
    Frage: Was haben Sie, wenn zwei Anwälte bis zum Hals im Sand vergraben sind?
    Antwort: Nicht genügend Sand.
    93 Prozent der Ärzte praktizieren defensive Medizin
    In Pennsylvania wurden 824 Notfallmediziner, Radiologen, Geburtshelfer/Gynäkologen, Allgemeinchirurgen, orthopädische Chirurgen und Neurochirurgen gefragt, ob sie defensive Medizin praktizieren. 64 In allen sechs Fachgebieten besteht eine hohe Prozessgefahr. 93 Prozent (!) der Ärzte berichteten, sie würden in ihrem Beruf manchmal oder oft defensiv handeln. Da nicht alle bereit sein dürften, das – noch nicht einmal gegenüber sich selbst – einzugestehen, könnte die tatsächliche Zahl sogar noch höher sein. Was genau tun Ärzte, um sich vor Patienten zu schützen?
    Es folgen vier besonders beliebte Maßnahmen und die Zahl der Ärzte, die Zuflucht dazu nehmen:

    Am häufigsten unter den überflüssigen Tests waren Computertomografien ( CT s), Magnetresonanztomografien ( MRT s) und Röntgenuntersuchungen. Das erklärten fast zwei Drittel der Notfallmediziner, die Hälfte jeweils der Allgemeinchirurgen, der orthopädischen Chirurgen und der Neurochirurgen sowie ein Drittel der Radiologen. Wobei festzuhalten ist, dass eine CT – im Gegensatz zur MRT – nicht nur kostspielig ist. Sie kann Patienten auch einer hohen Strahlendosis aussetzen und bei einer kleinen Anzahl von ihnen zu Krebs führen. Außerdem berichtete ein Drittel der Ärzte, sie würden Risikoeingriffe, Entbindungen und die Behandlung von Risikopatienten vermeiden. Die Umgehung solcher Zuwendungen bezeichnen wir als negative defensive Medizin, im Gegensatz zur positiven defensiven Medizin in Form übertriebener Behandlungen. In jedem Fall steht die kollektive Angst der Ärzte einer guten Behandlung im Wege.
    Schauen wir uns die übertriebene Verwendung von bildgebenden Verfahren etwas genauer an.
    Kinder: Eine Million überflüssige CT-Scans
    Einem kleinen Jungen läuft die Nase. Um ganz sicherzugehen(!), bringt ihn die Mutter zu einem CT -Scan. Sie sitzen im Wartezimmer, bis die CT -Assistentin sie aufruft. Mom hängt am Handy; der Junge ist mit seiner PlayStation beschäftigt. Alle drei gehen in den Aufnahmeraum. Mom spricht noch ins Handy, während die Assistentin sich um die Aufmerksamkeit des Sohns bemüht, doch der wird vollkommen von seinem Spiel in Anspruch genommen. Die genervte Assistentin schreit die Mutter an: »Ich mache den Scan nicht zweimal!« Der CT -Scan ist so selbstverständlich geworden, dass ihm nur noch wenige Leute Aufmerksamkeit schenken. Werden CT s in den Fällen verwendet, für die sie gedacht sind, können sie außerordentlich wertvoll sein. Aber nicht für eine laufende Nase.
    Jedes Jahr werden geschätzte eine Million US -amerikanische Kinder unnötigen CT -Scans unterzogen. 65 Wenn ein Kind Magenschmerzen, eine Beule am Kopf oder andere Beschwerden hat, denken viele
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