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Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Titel: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)
Autoren: Gerd Gigerenzer
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abzusichern.
    Die Wahl der zweitbesten Möglichkeit ist nicht Dummheit oder böse Absicht. Defensive Entscheidungen werden den Beteiligten von der Psychologie des Systems aufgezwungen. Im vorliegenden Fall beruhte die Psychologie auf einer Faustregel, der wir im vorigen Kapitel begegnet sind:
    Rekognitionsheuristik : Wenn du den Namen eines Unternehmens erkennst, aber nicht den eines anderen, dann schließe daraus, dass das erkannte Unternehmen den höheren Nutzen liefert .
    Diese einfache Regel ist oft eine gute Richtschnur. 60 Doch sie kann zur Vorherrschaft einiger weniger Firmen führen, die immer größer werden und nicht mehr beste Qualität liefern können. Defensives Entscheiden macht sich die Bekanntheit von Markennamen zunutze, aber auch alles andere, was die Entscheidungsträger schützt. Das Ergebnis ist ein paradoxes soziales Spiel: Die Organisation schützt sich gegen ihre Spender, indem sie einen Teil der Spenden für zweitbeste Dienstleistungen ausgibt, weil sie befürchtet, dass die Spender ihr Schwierigkeiten machen könnten.
    Dieses Selbstverteidigungsspiel findet nicht nur in gemeinnützigen Organisationen statt. Auch Regierungen spielen es. Denken Sie an die Wolke aus Vulkanasche, die 2010 von Island kommend über Europa zog und die Frage aufwarf, ob das Fliegen nicht gefährlich sei. Um ganz sicherzugehen, sprachen die Politiker ein wochenlanges Flugverbot für Verkehrsflugzeuge aus. Wäre eine Maschine beim Flug durch die Aschewolke abgestürzt, hätte man sie dafür verantwortlich gemacht. Wenn Menschen getötet werden, weil sie stattdessen das Auto nehmen müssen, kommt die Frage der Schuld noch nicht einmal auf.
    Jemand muss schuld sein
    Peter, einer meiner Studenten, fuhr einmal nach Cape Cod zu einer Walbeobachtungstour. Es war ein stürmischer Tag, und das Boot krängte in schwerer See. Bei einem heftigen Brecher rutschte Peter auf dem nassen Deck aus, fiel und tat sich weh. Freundlich half ihm ein anderer Passagier auf und stellte sich als Anwalt vor.
    »Haben Sie sich was getan?«
    »Oh, mein Knöchel tut weh. Aber es geht schon. Danke«, erwiderte Peter.
    »Verklagen wir den Schiffseigner. Wenn wir verlieren, brauchen Sie keinen Cent zu bezahlen. Wenn wir gewinnen, teilen wir uns die Entschädigung.«
    Peter war verblüfft.
    »Bei der Sache können Sie nicht verlieren«, stellte der Anwalt fest, an Peters gesunden Menschenverstand appellierend.
    »Aber es war doch meine Schuld«, stotterte Peter.
    »Warum lassen Sie das nicht den Richter herausfinden?«, fuhr der Anwalt mit unwiderlegbarer Logik fort.
    »Ich hatte wirklich selber Schuld und niemand anders.«
    Schließlich lehnte Peter das sichere Geschäft ab. Er fand einfach, dass es nicht richtig sei.
    Nicht jeder würde sich eine solche Chance entgehen lassen. Walbeobachtungstouren sind nicht die einzigen Anlässe, bei denen solche Rechtsanwälte auf der Lauer liegen und auf Klientenfang gehen. Gut gekleidete Jäger pirschen durch Krankenhäuser, jagen hinter Krankenwagen her und mieten Plakatwände für Tausende von Dollar im Monat, um ihre Dienste anzubieten. Man könnte meinen, eine derart eingehende Kunstfehlerüberwachung müsse sich zum Vorteil der Patienten auswirken, doch das ist eine Täuschung. Sie hat ihren Preis, einen hohen Preis – besonders im Gesundheitswesen, wo sie die Beziehung zwischen Arzt und Patient vergiftet.
    Defensive Medizin
    Wenn Sie denken, Ihr Arzt empfiehlt Ihnen die beste Behandlungsmethode, haben Sie vielleicht recht – und Glück. Eine beträchtliche Zahl von Ärzten fürchtet jedoch, ihre Patienten könnten sie verklagen, wenn sie eine Krankheit übersehen oder keine aggressive Therapie vornehmen. Sie glauben, sie hätten keine andere Wahl, als überflüssige Tests, Medikamente oder Operationen vorzuschlagen, selbst auf die Gefahr hin, dem Patienten zu schaden. Ihren eigenen Ehepartnern und Kindern, bei denen die Gefahr juristischer Konsequenzen geringer ist, würden sie diese Eingriffe nicht vorschlagen. In der Schweiz etwa beträgt die Rate von Hysterektomien – Entfernungen der Gebärmutter – 16 Prozent, während sie bei Arztfrauen und Ärztinnen bei nur zehn Prozent liegt. 61 In den USA , wo die Prozessangst höher ist, wird rund jede dritte Frau einer Hysterektomie unterzogen, wobei diese Zahl starken regionalen Schwankungen unterworfen ist. Die Mehrzahl der annähernd 600000 jährlich in den USA vorgenommenen Hysterektomien ist klinisch nicht gerechtfertigt. In der Hälfte der Fälle
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