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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Autoren: Hollow Skai
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Verhältnis zu unserem Vater«. »Pappherr« nannten sie ihn, weil er nicht nur Blumenvasen aus Pappe erfunden hatte, sondern auch das Faltcover von Keine Macht für Niemand und umweltfreundliche CD-Verpackungen, die erst nach Rios Tod für die auf Möbius Rekords veröffentlichten Alben verwendet wurden.
    Rein äußerlich hätte man ihn, dessen Vater erst Kammerdiener auf einem Rittergut im Oderbruch und nach dem Zweiten Weltkrieg Hausmeister in Berlin war, für einen Offizier halten können. Als Siemensianer war er jedoch vom Kriegsdienst freigestellt gewesen, und er hasste den Krieg auch so sehr, dass die drei Möbiusse nicht mit Gewehren und Pistolen spielen durften (und sie sich heimlich basteln mussten). Das »Marschieren«, sagte Rio einmal, zu Gast bei Alfred Biolek, »war noch nie seine Sache gewesen.«
    Herbert Möbius legte Wert auf preußische Tugenden wie Genauigkeit und Pünktlichkeit, erzwang sie aber nicht, wie in den fünfziger Jahren noch üblich, mit dem Stock. Offensichtlich hatte er nicht vergessen, wie seine Mutter, eine sehr verschlossene, kühle und etwas herzlos wirkende Förstertochter, ihn mit einer Tracht Prügel bestraft hatte. Gleichwohl tolerierte er aber auch, dass in seinem Haus Chaoten und Künstler ein und aus gingen, im Keller Schlagzeug gespielt wurde und am Küchentisch immer vier Leute mehr saßen, als zur Familie gehörten. »Mein Vater hat Kalauer geliebt«, erinnert sich Peter Möbius, »und war immer einer der Hauptanstifter bei Witzgesprächen« und wenn rumgealbert wurde. Das hatte er wohl von seinem Vater geerbt, der ein Filou und Witzbold gewesen sein soll. Und diese Vorliebe vererbte er auch seinem jüngsten Sohn, dessen Tod er nicht mehr erlebte. Herbert Möbius starb am 7. Juni 1996 an Lungenkrebs, zweieinhalb Monate, bevor Rio ihm nachfolgte.

03 Mama war so
    Morgens um neun war die Welt nicht mehr in Ordnung. Da stand Rios Mutter Erika plötzlich am Bett, das er mit seinem Freund Jan Bajen teilte, und riss sie aus dem Schlaf: »Jungs, ihr müsst jetzt aber mal aufstehen.« Der morgendliche Weckruf brachte das Fass zum Überlaufen. Rio tickte aus, packte seine Sachen und reiste drei Stunden später ab, um mit Jan so lange in Italien zu verweilen, wie seine Eltern in Fresenhagen Urlaub machten.
    Darüber könne sich, so Peter Möbius, seine Mutter »noch heute aufregen«, weil sie nie begriffen habe, dass ihre Söhne Nachtarbeiter sind. »Die ist schon morgens um acht auf und lärmt in der Küche.« Die Probleme, die Rio mit seinen Eltern hatte, hätten sich jedoch kaum von denen unterschieden, die andere Leute mit ihren Eltern haben, wenn sie vier oder fünf Wochen bei ihnen zu Besuch sind.
    Für Lutz Kerschowski ist diese Episode symptomatisch dafür, »wie man sich Stress an Land ziehen kann«. Rio hätte ja nur die Tür zu seinem Schlafzimmer oder seiner Wohnung abschließen müssen, um seine Ruhe zu haben. Doch stattdessen habe er erwartet, dass seine Mutter ihm den nötigen Respekt erweise, und wenn das nicht der Fall war, habe er diesen eben ständig aufs Neue eingefordert. Wolfgang Seidel, der Anfang der siebziger Jahre für kurze Zeit mal Schlagzeuger von Ton Steine Scherben war, bevor er von Lanrue gefeuert wurde, nimmt dies hingegen als Indiz dafür, dass Rios Verhältnis zu seiner Familie und speziell seinen Brüdern nachhaltig gestört war. »Wenn die leibliche Familie Möbius in Fresenhagen an die Vordertür klopfte«, schreibt er, der laut Lanrue nie in Fresenhagen war, »kam es schon mal vor, dass sich Rio Reiser durch die Hintertür aus dem Staub machte.« Dass Rio mit seiner Mutter in Ungarn Urlaub machte, mit seinen Eltern eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer unternahm oder mit ihnen Jerusalem besuchte, passt da nicht ins Bild, das Seidel in der Tageszeitung Junge Welt malte, wann immer sich eine Gelegenheit ergab. Und schon gar nicht, dass die drei Brüder ihnen ihre goldene Hochzeit in Fresenhagen ausrichteten, samt Tischordnung, Kutschfahrt und allem, was dazugehört.
    Wie ihr Mann, den sie im Kirchenchor kennen lernte, wurde auch Erika Möbius in Berlin geboren. Ihr Vater stammte aus dem Banat, hatte in Budapest und Wien gearbeitet, bevor er aus der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie in die Preußen-Metropole gekommen war. Er konnte so ziemlich jede Arie singen und hatte einen gut gehenden Friseursalon übernommen, direkt neben dem Reichsluftfahrtministerium gelegen, nachdem sein Chef im Ersten Weltkrieg gefallen war. Jeden Sonntag ging er
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