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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Samuel Benchetrit
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zog das Buch von Rimbaud aus der Hose und legte es auf das Tischchen neben der Matratze. Die Bierflasche mit der Rose stellte ich auch darauf.
    Dann machte ich mich auf meinem provisorischen Lager lang, deckte mich mit Ritons Decke zu und knipste das Licht aus. Es war stockdunkel, was ich aber irgendwie auch gut fand, weil ich so wenigstens nicht sah, dass ich in einem muffigen Keller lag.
    Hätte man mir tags zuvor gesagt, dass ich diese Nacht hier verbringen würde, ich hätte bestimmt vor Angst geschlottert und mich bereits sterben sehen. Seltsamerweise hatte ich jetzt aber keine große Angst.
    Als wäre ich irgendwo anders.
    Nur mein Körper lag in diesem Keller, mein Kopf schwebte sechs Etagen darüber.
    Bei mir zu Hause.
    Ich wandle also durch unsere Wohnung. Es brennt kein Licht, nur von draußen dringt welches herein. Von den Straßenlaternen. Von den Neonleuchten. Vom verschleierten Mond. Und vom Himmel, der flimmert wie die Glitzerlichter über der Eisbahn. Ich stehe im Flur. Von hier aus habe ich alle Zimmer im Blick. Gegenüber ist die Küche. Die Bodenfliesen glänzen, weil meine Mutter nach dem Kochen alles saubergewischt hat. Auf dem Tisch schimmert Aluminiumpapier, das einen Teller mit Kuchen für das Frühstück abdeckt. Es ist ein länglicher Raum. An seinem Ende sehe ich ein Fenster. Die Vorhänge reichten nur bis zur ersten Kreuzsprosse – das hat meine Mutter in einem Film gesehen. Sie fand diese halblangen Vorhänge schick in einem Raum, in dem es nie vollkommen dunkel sein muss. Ich höre den Kühlschrank. Erbrummt wie gewohnt vor sich hin. Alle Kühlschränke im Viertel machen dasselbe Geräusch. Der Kühlschrank erinnert mich an den Typ vom Einkaufszentrum in der Cité Berlioz. Die Mikrowelle, die obendrauf steht, ist sein Kopf. Die Uhr auf der Mikrowelle funktioniert übrigens nur die Hälfte des Jahres. Wenn wir Winterzeit haben. Ansonsten muss man eine Stunde dazuzählen. Mir macht das nichts aus. Meine Mutter hingegen geht immer auf dem DVD-Player nachgucken, wie spät es wirklich ist. Sogar im Winter vergewissert sie sich dort. Ich schaue zum Wohnzimmer hinüber. Die Tür ist geschlossen. Es ist zwar eine Tür mit Glasscheibe, aber man kann trotzdem nicht gut erkennen, was dahinter passiert. Es ist wie bei einem Kirchenfenster, das Glas ist matt. Wenn der Fernseher läuft, sieht man es gerade mal flackern. Heiligabend stehen Henry und ich immer an der Tür und beobachten angestrengt den Schatten meiner Mutter, wenn sie die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legt, und das Blinken der Lichterkette. Die Scheibe wird dann abwechselnd gelb, rot und grün.
    Alles wirkt größer heute Abend. Oder macht die Nacht mich kleiner?
    Mein Kopf schwebt, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.
    Wo ich bin.
    Ist meine Mutter da?
    Und Henry?
    Du brauchst keine Angst zu haben, Charly. Guck ins Badezimmer und schau dir unsere Sachen auf der Anrichteunter dem Spiegel an. Ich rufe mir jedes einzelne Ding in Erinnerung. Zwei Zahnputzgläser. Links das von meiner Mutter, mit ihrer Zahnbürste. Rechts das von Henry und mir, mit unseren Zahnbürsten.
    Ist meine Mutter in ihrem Schlafzimmer?
    Eine Seife. Ein Schwamm. Eine Schachtel Kleenex.
    Die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter ist geschlossen.
    Ein Deodorant. Ein Kamm. Eine Haarbürste.
    Sie macht die Tür doch niemals ganz zu!
    Habe ich sie heute Morgen geschlossen, als ich aus der Wohnung gerannt bin?
    Ich möchte sie öffnen. Möchte meine Mutter im Bett liegen sehen, mich neben sie legen. Mir würde schon etwas einfallen, damit sie mich bei sich schlafen lässt.
    Ich gehe auf die Tür zu. Vorsichtig. Ich trete ganz nah heran, spüre meinen Atem an der Tür. Einen Moment lang weiß ich nicht mehr, vor welcher Tür ich stehe. Vor der von meiner Mutter. Von Madame Roland. Von dem Elektrohäuschen. Ich drehe den Türknauf. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Die Tür öffnet sich, aber ich sehe nichts. Drinnen ist es stockdunkel. Wie im Einkaufszentrum in der Cité Berlioz. Ich muss hineingehen, um festzustellen, in welchem Zimmer ich bin. Wie gern würde ich jetzt Freddy Tanquin pfeifen hören! Aber abgesehen vom Kühlschrank herrscht völlige Stille.
    Ich mache einen Schritt nach vorn.
    Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel.
    Ich sehe Umrisse. Ganz grobe. Rechts steht kein Bett wie im Schlafzimmer meiner Mutter. Das ist ein anderes Zimmer.
    Ich mache einen weiteren Schritt. Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel.
    Links erkenne ich einen Schrank.
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