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Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied
Autoren: P Grote
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mit Verachtung gefüllt.
    Die übergroße Taschenuhr über dem Juwelierladen zeigte zehn Minuten vor Mitternacht. Thomas ging schneller, er wollte schlafen, er wollte nicht denken, nicht grübeln. Sicher war Manuel noch wach, und es würde wieder eine Nacht mit unendlichen Gesprächen werden. Manuel war traurig, aber er war auch hilflos, und ihm fehlte die Orientierung. Er stand wie vor einer inneren Mauer. Er wusste, dass dahinter etwas lag, aber er wusste nicht, was es war. Noch nie hatte Thomas einen Menschen in diesem Zustand erlebt.
    Vor ihm schälte sich die Linde aus dem Dunkel, mit ihr hatte Geisenheim sich zur Lindenstadt gemacht. Der Baum sollte siebenhundert Jahre alt sein. Im Rathaus dahinter brannte unter den Arkaden über der Freitreppe noch Licht. Die Buchhandlung Untiedt, wo er seinen Bedarf an Büchern und Schreibpapier deckte, lag im Dunkeln. Der Besitzer vom »Kiosk Linde« hinter dem Rathaus versuchte verzweifelt, die letzten Zecher am Stehtisch vor seiner Tür zur Aufgabe zu bewegen, und als Thomas um die nächste Ecke bog, hörte er noch immer ihre lauten Stimmen. War Alexandra für sie ein Thema? Sicher, denn vor Kurzem war hier auf jemanden aus einem fahrenden Auto heraus geschossen worden.
    Regine konnte mit all dem am wenigsten anfangen; sie war nur entsetzt, dass Menschen anderen Menschen etwas antun konnten. Am liebsten hätte sie den Kriminalbeamten, von denen sie gestern verhört worden waren, einen Namen gesagt und damit basta. Aber sie konnte keinen Namen |15| nennen, hatte nicht den leisesten Verdacht. In Gefühlsangelegenheiten war Regine hilflos, in allen Fragen des Weinbaus war sie Spitzenklasse und bei der Lösung von technischen Problemen immer vorneweg. Aber mit Männern, Kindern oder Familie hatte sie nichts im Sinn. Thomas erinnerte sich schmunzelnd, wie sie vor dem Schaufenster des Geisenheimer Wäschegeschäfts »Unterm Rock« stehen geblieben waren, um einen Freund zu begrüßen. Als sie bemerkt hatte, wo sie standen, war sie knallrot geworden.
    Thomas sah drei junge Leute, die er vom Sehen her kannte, das »Colours« betreten. Gehörten sie zu den Landschaftsarchitekten oder zu den Getränketechnikern? Er zögerte, ob er auch   ... nein, besser nicht, Manuel würde ihn vielleicht brauchen. Das Bräunungsstudio »California – sun & more« erinnerte ihn wieder an Alexandra. Hier hatte sie sich ihre Ganzkörperbräune geholt, wie er bemerkt hatte, als er einmal unabsichtlich in das nicht abgeschlossene Badezimmer geplatzt war.
    Zehn Minuten später war er zu Hause. In dem Zweifamilienhaus oberhalb der Bahnlinie bewohnten sie zu dritt die untere Etage. Auf der Straße davor stand Manuels schwarzes Alfa Romeo Cabrio, ein Anlass für neidvolle Blicke. In Manuels Zimmer brannte Licht, demnach war er noch wach. Thomas schloss die Haustür auf, die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, und als er leise Manuels Zimmer betrat, sah er nur den über die Tasten des Klaviers gebeugten Rücken und die langen schwarzen Locken, die sich bewegenden Hände, von denen eine plötzlich weit nach links griff und mit spielerischer Leichtigkeit zurück über die Tasten lief. Das einzige Geräusch war Manuels heftiger Atem und die trockene Berührung der Tasten mit den Fingern. Beethoven, wie ihn einige Studenten nannten, die von seiner Passion wussten, hatte die Stummschaltung aktiviert. Nur er hörte sich selbst über den Kopfhörer. Manuel hatte sich in seine Welt zurückgezogen.
    |16| Müssen wir wieder von vorne anfangen?, fragte sich Thomas und dachte daran, wie die Starre von Manuel nach und nach abgefallen war, wie er aus seiner Zurückgezogenheit hervorgekrochen war und sich seiner Umwelt mit vorsichtiger Neugier näherte. Zu einem großen Teil hatten die Besuche auf ihrem Pfälzer Weingut dazu beigetragen. Zuerst hatte er sich geweigert, die Einladungen anzunehmen, mittlerweile freute er sich auf die Wochenenden, obwohl sie immer in eine elende Schufterei ausarteten – und das nach einer anstrengenden Studienwoche mit einem Stundenplan, der für studentische Sperenzien, wie nächtliche Fahrten in die Disco nach Wiesbaden, kaum Zeit ließ. Thomas hatte es gern gesehen, dass Manuel besonders zu seinem Vater Zutrauen gefasst hatte, erstaunt, dass es Väter gab, mit denen man reden, zu denen man gar ein freundschaftliches Verhältnis haben und sie lieben konnte. Manuel konfrontierte ihn mit Fragen, die er seinem eigenen Vater nie hatte stellen dürfen, die nie beantwortet worden waren. Der
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