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Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied
Autoren: P Grote
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Bürgersteig vor dem Haus. Er würde den Tag nie vergessen, an dem Kriminalhauptkommissar Sechser Manuel abgeholt und seinen Kopf in dieser anmaßenden Geste nach unten gedrückt hatte. Regine zupfte noch immer an sich herum, Thomas lehnte in der Küchentür und sah ihr dabei zu. Unter seinem vermeintlich kritischen Blick wurde sie unsicher, aber er dachte lediglich daran, wie sehr sie seit dem Bruch mit ihrem Vater aufgeblüht war. Manuels
Erzeuger
, wie er seinen Vater neuerdings nannte, hatte weder ein Wort des Bedauerns noch eine Entschuldigung geäußert, stattdessen hatte er jede Verantwortung für sein kriminelles Netzwerk abgestritten. Thomas ging auf den Balkon zurück und erschrak, als ihm von draußen sein Vater zuwinkte. Thomas hatte den Wagen weder gehört noch kommen sehen.
    »Einsteigen! Abfahren! Beeilt euch.«
    Pascal kam ihm an der Haustür entgegen. »Alles klar?«, fragte er auf Deutsch, klopfte Thomas kurz auf die Schulter, dann fiel ihm Regine in die Arme.
    »Ich habe dir gleich gesagt, warte mit dem Lippenstift! Das ist Verschwendung von Zeit und Rohstoffen.« Thomas ging kopfschüttelnd auf seinen Vater zu.
    |380| »Ist doch nur Wachs, Pigmente und Konservierungsstoff«, sagte Philipp. »Was nimmt denn Kamila? Einen biologisch-dynamischen aus Cochenille-Schildläusen?«
    Thomas hielt die hintere Wagentür auf. Das Pärchen rutschte auf die Rückbank, Philipps Freundin Verena quetschte sich dazu, damit Thomas vorn sitzen konnte; hinten hätte er die Beine verknoten müssen.
    »Und was ist mit deiner neuen Freundin?«, fragte Verena.
    »Kamila wartet in Hattenheim am Bahnhof. Wir müssen sie abholen.«
    »Meinst du, sie passt hier noch rein?«
    »Sie ist schlank, und für die Rückfahrt zur Feier haben wir noch Manuels Auto.«
    »Hat er die Kiste endlich lackieren lassen?«, fragte Pascal.
    »Nein, er will die Schramme immer sehen, er will an alles erinnert werden, er will nichts vergessen, er will sie erst zuspachteln lassen, wenn die innere Schramme weg ist.«
    »Die bleibt für immer«, meinte Pascal lakonisch, und jeder im Wagen wusste, dass er an die Schussverletzung damals in der Champagne dachte.
    Kamila stand wie angekündigt in Hattenheim. Vor vierzehn Tagen war sie mit in die Pfalz gekommen und hatte sich unauffällig eingefügt. Es hatte sich gezeigt, dass sie wirklich auf dem Land aufgewachsen war, sie wusste, wo und wie man anpackte, und ohne zu fragen und ohne Widerspruch hatte sie die Küche übernommen und unter den kritischen Blicken der Männer für alle gekocht. Als Einstand bot sie
Pierogi
, halbmondförmige Teigtaschen mit Fleisch- und Käsefüllungen, Thomas kannte sie von den Latinofeten an der Kölner Uni als
Empanadas
, für Manuel waren es Schwäbische Maultaschen auf Polnisch. Danach hatte es
Zrazy
gegeben, nichts weiter als Rindsrouladen, aber so schmackhaft, dass die Männer ihr die Küche an einem Wochenende pro Monat nicht streitig machen würden. Außerdem konnte sie backen. Aber sie war eifersüchtig, |381| besonders auf Manuel, mit dem sie sich Thomas’ Aufmerksamkeit tagsüber teilen musste.
    Sie waren spät, der Parkplatz an der Hauptzufahrt der ehemaligen Zisterzienserabtei war überfüllt, sie versuchten es auf der linken Seite, mussten aber den Wagen an der Straße abstellen und noch ein Stück laufen. Atemlos erreichten sie die Klosterkirche. Ihre Plätze lagen vorn, wo bereits Johanna Breitenbach und ihr Mann saßen. Das Orchester stimmte sich ein, der Platz am Flügel hingegen war leer, und auch der Dirigent fehlte noch.
    Thomas kannte die Stücke, die sie erwarteten, inzwischen auswendig, aber in diesem Raum und in diesem Rahmen würde alles anders sein. Er hätte lieber weiter hinten gesessen, um den Klang und die Schwingung des gewaltigen romanischen Kirchenschiffs in sich aufzunehmen. Anders als Manuel wollte er vergessen. Er wollte vergessen, wie viel Mühe es sie gekostet hatte, ihn aus dem Knast zu holen. Was interessierte es ihn, ob Marquardt ein Mörder war, ob Waller ein Netz für Industriespionage aufgebaut hatte, ob Vormwald sämtliche Gesetze heranzog, um sich herauszuwinden, und ob Manuels Vater als geistiger Urheber galt, der wahrscheinlich unbestraft aus der Sache hervorgehen würde. Der Mann war mit sich selbst genug gestraft.
    Man würde mit dem Klavierkonzert Nr.   1 in e-Moll Opus 11 beginnen und das Konzert nach der Pause mit dem Konzert Nr.   2 f-Moll Opus 21 sowie einer Fantasie und einer Berceuse fortsetzen. Was für eine
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