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Richard Dübell

Richard Dübell

Titel: Richard Dübell
Autoren: Allerheiligen
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versteckte, schön angelegte Platz zwischen der Ostflanke des Doms und den umliegenden Häusern, im Mittelalter der Friedhof der Pfarrei, diente neun Monate im Jahr den Nachtschwärmern der nahen Lokale als Raststelle, Raucherzone, Toilette und – seit heute Nacht – als Ort für ein durch einen dreisten Raubüberfall unterbrochenes Schäferstündchen. Jeden zweiten Morgen fand der Stiftspropst die Hinterlassenschaften der nächtlichen Fröhlichkeit: Zigarettenkippen, zerknüllte Dosen, Glasscherben, Kothaufen und Pfützen von Erbrochenem. Die frühen Gottesdienstbesucher mussten sich ihren Weg hindurch suchen. Zuweilen lagen die Urheber der Beanstandungen noch daneben – in manchen Fällen auch darin. Wenn sie schon wach genug waren, pflegten sie die Messbesucher mit unflätigen Bemerkungen zu begrüßen. Der Stiftspropst war über all das nicht amüsiert.
    Sebastian Tiodoro war bemüht, die Würde seines Gotteshauses zu verteidigen. Aber er war auch ein Mensch, der die Geduld nicht unbedingt erfunden hatte, und die Entscheidungsfindung im Stadtrat darüber, was sich gegen die Rowdys unternehmen ließ, dauerte ihm zu lange. Seine Nerven waren gespannt und seine Beziehungen zu den Behörden seit einiger Zeit unterkühlt.
    »Das muss eine lebenslange Auswirkung auf das Liebesleben haben«, sagte Flora plötzlich. »Von einem Räuber im Kirchenportal überfallen und ausgeraubt zu werden, während man den Freund mit einer Discobekanntschaft betrügt …«
    »… dann geblendet, geknebelt und halbnackt ans Geländer gefesselt liegen gelassen zu werden …«
    »… während der Täter mit den Wertsachen türmt …«
    Sie sahen sich an und mussten plötzlich lachen. Mittlerweile waren sie in die Altstadt hinausgetreten. Im Morgengrauen entfaltete sich der ganz eigene Zauber der weiten, als Marktplatz angelegten Straße. Es war keine Menschenseele zu sehen. Ihr Gelächter hallte zwischen den bunten Hausfassaden wider, die von Spätgotik bis Jugendstil alle Baustile der vergangenen Jahrhunderte zeigten – und ein paar moderne Bausünden dazu, wenig genug glücklicherweise, um im Gesamtensemble unterzugehen.
    Peter war wie immer von Floras Attraktivität geblendet. Die gesamte Polizeiinspektion pflegte ihr hinterherzuschauen, wenn sie durch das Gebäude schritt – groß, schlank, die Masse mahagonifarbenen Haars meistens aufgesteckt, auf der Haut ein leichter Bronzeschimmer, der von irgendeinem Vorfahren aus südlicheren Gebieten kündete. Diese atemberaubend schöne, sinnliche Frau hatte ihm eine wilde, leidenschaftliche, himmlische, lichterloh brennende Nacht lang gehört. Seitdem wusste er, dass ihn keine andere Frau mehr interessieren würde. Peter Bernward, Kriminalhauptkommissar, achtunddreißig Jahre alt und bei den Kollegen als Zyniker bekannt, war mit Haut und Haar und über beide Ohren in seine Partnerin verschossen.
    Und sie, Flora, zeigte ihm seitdem ein so verwirrendes Kaleidoskop von Gefühlen – von kalter Ablehnung bis zu sehnsuchtsvollen Blicken, wenn sie sich unbeobachtet fühlte –, dass Hauptkommissar Bernward täglich in seiner privaten Hölle schmorte und manchmal beinahe sprachlos war, weil er nicht wusste, was er zu ihr sagen sollte und was nicht.
    Flora räusperte sich. Sie blickte die Altstadt hinauf, aber Peter war sicher, dass sie den Anblick gar nicht wahrnahm. »Nee, nee …«, sagte sie mit leichtem Kopfschütteln, was immer ein Zeichen dafür war, dass sie beinahe etwas ganz anderes gesagt hätte und nun nicht wusste, ob sie lieber hier oder ganz weit weg wäre.
    Er ahnte, dass der Augenblick der Nähe vorüber war, und versuchte verzweifelt, ihn festzuhalten. »Kann ich dich auf eine Tasse Kaffee einladen?«, fragte er.
    Sie wandte sich ihm zu. Schon an ihrem Blick erkannte er, dass seine Einladung höchst unwillkommen war. »Es ist fünf Uhr morgens, und das ist Landshut«, sagte sie. »Außer irgendeiner versifften Absackerkneipe hat nichts offen.«
    Hätte er sagen sollen: Komm mit zu mir, ich mach dir einen ganz frischen Kaffee und schwöre, dass ich nicht versuchen werde, Erinnerungen zu wecken? Er stellte fest, dass er es gesagt hatte. Und dass er es nicht hätte sagen sollen.
    Flora schenkte ihm einen ihrer Seitenblicke. Wenn sie von einem Lächeln begleitet waren, gingen sie Peter direkt ins Herz und gleichzeitig in die Hose. Bei diesem war nicht die Spur eines Lächelns zu sehen.
    »Ich bring den Wagen zurück«, sagte sie. »Du hast ja nur ein paar Schritte bis nach
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