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Rheingau-Roulette

Rheingau-Roulette

Titel: Rheingau-Roulette
Autoren: Sia Wolf
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entfernt stand, löste seine Anwesenheit Fluchtreflexe in ihr aus. Seine Präsenz war erdrückend. Immer noch leitete diese Empfindung ihr Handeln. Fast schmerzhaft wurde ihr das bewusst. Die Luft schien plötzlich so heiß und stickig wie im Hochsommer zu sein und das kleine Büro wurde noch kleiner. Zu klein für sie beide, ihr ungeklärtes Verhältnis zueinander und ihre Sprachlosigkeit.
    „Nun, auch wenn du nicht mit mir sprechen willst, wir müssen uns trotzdem unterhalten. Dann rede ich eben allein.“ Er sah sie einen Moment prüfend an. „Du bist schmal geworden. Verdammt schmal. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“
    Alexandra zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte in den vergangenen Wochen mit der Übelkeit gekämpft, die sie über den ganzen Tag begleitete. Sie vertrug keinen Kaffee und keine Säfte. Schwarzer Tee war verboten und Früchtetee mochte sie nicht. Alles, was intensiv roch, löste heftigen Brechreiz aus. Sie hatte die Lust am Essen und am Trinken verloren. Ihre Frauenärztin hatte ihr schon ein Aufbaupräparat verschrieben, aber auch das blieb nur unter größten Mühen in ihrem Magen. Sie hatte stark abgenommen, das war spürbar und deutlich sichtbar.
    Caro machte sich Sorgen und lud sie ständig zu Kaffee und Kuchen ein. Aber auch wenn sie den Kaffee durch verschiedene andere Getränke ersetzte, waren die Gerüche und das Essen an sich eine Belastung für Alexandra. Selbst ihre Leidenschaftskuchen, wie sie ihre Lieblingstorten nannte, lösten nur heftige Übelkeit aus und sie konnte es kaum mehr ertragen, nur noch an ihre Ernährung denken zu müssen. Caro war schon ganz verzweifelt vor Angst um sie und versuchte sie ständig davon zu überzeugen, ins Krankenhaus zu gehen, um sich dort behandeln zu lassen. Aber ein Krankenhausaufenthalt war nichts, was sie sich als heilsam für sich vorstellen konnte. Nicht, so lange sie noch irgendwie mit der Hilfe ihrer Ärztin ihre Übelkeit im Griff hatte.
    Nach den schrecklichen Tagen der Angst, als ihre Bauchkrämpfe immer schlimmer wurden und sie nicht wusste, ob ihr eine erneute Fehlgeburt drohte, hatte sich ihr Kind endlich entschieden, bei ihr zu bleiben. Aber um den Preis, dass Alexandra unter der ewigen Übelkeit leiden musste. Es war ihr egal. Alles war egal, solange dieses Kind bei ihr blieb. Dass sie ihre Praxis gerade erst eröffnet hatte, dass sie jeden Morgen und jeden Abend eine Infusion anlegen musste, um ein Mindestmaß an Flüssigkeitszufuhr einhalten zu können - es war ihr egal. Ebenso wie die Vertretung, die sie für die Zeit der Niederkunft organisieren und einstellen müsste und dass das ihre gesamte finanzielle Planung über den Haufen werfen würde - egal. Das würde sie alles irgendwie schaffen. Hauptsache, das Kind blieb bei ihr.
    Sie legte unwillkürlich die Hände über ihren Bauch. Hannes Blick folgte ihrer Handbewegung und blieb auf ihrem Bauch ruhen. Sie wusste plötzlich, dass er es wusste.
    „Ich weiß es!“
    Er trat einen Schritt auf sie zu. Alexandra wich zwei Schritte zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte und sah ihn fragend an. Seine Lippen, die sich zu einem leichten spöttischen Lächeln verzogen, ließen seine Augen glitzern.
    „Du lebst auf dem Dorf, Alex, schon vergessen?“
    Sie schüttelte den Kopf. Nein. Vergessen hatte sie das nicht. Aber verdrängt, wie gern die Leute über andere bekannte Bewohner im Dorf reden. Und als Logopädin kannten sie eine Menge Dorfbewohner. Schweigend sahen sie sich an und Alexandra merkte, wie ihre Sprachlosigkeit auf die Bewegungsfähigkeit ihres Körpers übergriff. Nicht reden können war schon schlimm, aber nicht reden und sich nicht bewegen können, war beängstigend. Nein, sie wollte nicht wie das Kaninchen vor der Schlange still und stumm auf ihre emotionale Hinrichtung warten.
    „Alex. Rede mit mir!“
    Seine Worte klangen freundlich bittend durch den Raum und übertönten seine Schritte. Alexandra traf die Entscheidung in dem Moment, als er auf sie zukam. Wenn sie eine Möglichkeit zur Flucht hatte, dann jetzt. Sie fühlte sich von Hannes überrumpelt, überfordert und ausgeliefert. Schwanger, mit Übelkeit geschlagen und ohne zu wissen, wer der Vater ihres Kindes war. Und er kam einfach so in ihre Praxis, nachdem sie sich so bemühte, ihm nicht zu begegnen. Ihm nicht und Stella nicht. Sie wusste nicht, wie lange sie noch ihre Tränen zurückhalten konnte. Ihr ganzer Körper stand unter Hochspannung und in ihrem Inneren tönte
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