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Rheingau-Roulette

Rheingau-Roulette

Titel: Rheingau-Roulette
Autoren: Sia Wolf
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diese Jahreszeit ohnehin der Fall war. Sie machte ihre Schreibtischlampe an und zog den Schreibtisch-Container nach vorne, um zu schauen, ob der Ordner dahinter gerutscht war. Und wirklich. In der hintersten Ecke, bei den schlechten Lichtverhältnissen unter dem Schreibtisch kaum sichtbar, lag der dunkelrote Ordner, den Frank für sie angelegt hatte. Alexandra stöhnte. Sie würde auf Knien unter den Schreibtisch krabbeln müssen, um an die Unterlagen zu kommen. Und die Lageveränderung würde mit großer Wahrscheinlichkeit wieder Übelkeit und Erbrechen auslösen. Sie überlegte einen Moment ernsthaft, ob sie sich vorsorglich eine Schüssel holen sollte. Ihr graute vor dem Gedanken, sich schon wieder übergeben zu müssen. Ihre Speiseröhre fühlte sich wund an von der Magensäure, die das ständige Erbrechen hindurchspülte und was sie jetzt erbrach, würde sie nur unter Mühen wieder zu sich nehmen können. Ein ewiger grässlicher Kreislauf.
    Sie holte tief Luft. Nein, sie würde nicht erbrechen, sie würde sich beherrschen. Sie ballte die Fäuste, wie zur Bestätigung ihres Vorhabens und blickte unter den Schreibtisch.
    Mit großen Buchstaben stand auf dem Ordnerrücken: ‚IT-LogoPraxis Rabe’. Mit ihrem Einverständnis hatte Frank ein Duplikat des Ordners in seiner Firma gelagert und einen seiner Auszubildenden abgestellt, der sich um ihr Netzwerk kümmern sollte. Nick hieß der junge Mann, den Frank beauftragt hatte. Er war sympathisch, aber er machte stets einen gequälten Eindruck, wenn Alexandra ihn anforderte. Ihr kleines Netzwerk und ihre häufigen Fragen waren wahrscheinlich unter seiner Würde als angehender Informatiker. Glücklicherweise kam es nur selten vor, dass sie ihn vor Ort brauchte. Da die Verhältnisse in der Firma nach Franks Tod noch sehr unruhig waren, wollte Alexandra ihn lieber nicht bitten und versuchen, ihr Netzwerk selbst in den Griff zu bekommen. Seufzend ließ sie sich auf den Boden nieder und versuchte, mit ihrer Hand den Ordner zu erreichen. Zwecklos. Sie musste unter den Tisch kriechen.
    Gerade als sie unter dem Schreibtisch hockte, um den Ordner nach vorn zu ziehen, hörte sie die Praxistür bimmeln. Das Glöckchen, das ihr Caro zur Praxiseröffnung geschenkt hatte, erklang in hellen Tönen.
    Sie hielt einen Moment die Luft an. „Keine Angst“, redete sie sich leise zu. Judith ist verschwunden. Sie würde sich nicht trauen, in ihre Praxis zu kommen. Nicht nach der Geschichte auf dem Hof. Oder? Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Sie erwartete niemanden mehr. Alle terminierten Patienten waren behandelt und Laufkundschaft hatte sie keine.
    „Hallo?“
    „Ich bin hier! Im Büro! Einen Augenblick bitte!“
    Eine Männerstimme. Hastig und erleichtert zog Alexandra an dem Ordner und krabbelte rückwärts unter dem Schreibtisch hervor.
    „Netter Anblick!“
    Auf die vehemente Wucht des Schmerzes, der sie bei seinem Anblick traf, war sie nicht vorbereitet. Sie hatte ihn mindestens sechs Wochen nicht mehr gesehen. Ihr Herz klopfte laut und heftig. Eine Percussion-Band trommelte in ihrer Brust. Hoffentlich konnte er es nicht hören. Sie musste schlucken und spürte, wie ihre Sprache verschwand. Sprachlos, emotional aufgeladen, stand sie still in ihrem Büro und sah ihn an. Was sollte sie auch sagen? Die Situation war, wie sie war und beide konnten nichts daran ändern. Oder wollten es nicht.
    „Hallo.“ Seine Stimme klang freundlich. Er lächelte sie unbefangen an. Stumm erwiderte sie seinen Blick.
    „Was ist los? Redest du nicht mehr mit mir?“
    Sie schüttelte den Kopf. Das war missverständlich, sie wusste es. Aber was sollte sie machen. Ihre Stimme war weg. Im Orkus ihrer emotionalen Dysfunktion mit diesem Mann verschwunden. Hilflos hob sie die Hände und öffnete den Mund, um zu sprechen, aber es kam nichts. Sie war nicht auf diese Situation vorbereitet. Nicht darauf, sich in ihrer fragilen körperlichen und seelischen Verfassung mit ihm auseinanderzusetzen und ihre Beziehung zu analysieren. Wozu auch. Ihre kurze sexuelle Begegnung war für sie beide ein kurzes Intermezzo gewesen - zumindest hatten sie das beide behauptet. Dass dieses Intermezzo derartige Folgen haben würde, war nicht abzusehen. Genauso wenig wie die veränderte Sachlage, die sich seit Arnos Geburtstag ergeben hatte.
    Nun stand er Wochen später einfach so in ihrer Praxis, unangemeldet, selbstbewusst und so verdammt anziehend und ihr rutschte das Herz in die Hose. Und obwohl er bestimmt zwei Meter von ihr
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