Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Marianne de Pierres
Vom Netzwerk:
scharten sich um den Tisch und die Essensreste auf den Edelstahlplatten. Der Rest stand in kleinen Grüppchen zusammen oder saß auf dem Boden. Darunter war auch Cal.
    Fünfundsiebzig. Sechsundsiebzig . Retra streckte die Hand nach den Resten irgendeines Kuchens und nach einem Gebäckstück aus, das sie nicht kannte. Die anderen hatten schon davon gegessen, was ihr den Mut gab, es ebenfalls zu probieren.
    Sie steckte das Essen in die Tasche ihres Mantels und ging langsam rückwärts, bis ihre Hände die harte Oberfläche des Rettungsrings berührten, der an der Kabinenwand hing.
    Geh zum Bug zurück , sagte sie sich. Da stockte ihr der Atem. Der Riper stand vor ihr. Was will er?
    Ohne ein Wort beugte er sich vor, als wollte er sie packen, fasste dann aber im letzten Moment an ihrer Taille vorbei und hinter sie, in die Dunkelheit hinter der Ringboje.
    Sie hörte ein gedämpftes Keuchen.
    Dann zog er den Arm schnell wieder zurück. Ein Körper kam aus dem Hohlraum geschossen und stieß Retra zur Seite, sodass sie nach vorn über ausgestreckte Beine stolperte und neben Cal landete.
    »Nein!«, bettelte die junge Frau und versuchte sich an der Boje festzuhalten. Doch der Riper riss sie los und zerrte sie mit sich zu den Kabinenstufen.
    »Die ist bestimmt zu alt«, sagte Cal.
    Retra richtete sich auf. Ihre Kehle war trocken. Sie schluckte. Der Schreck ließ sie frösteln. »Was geschieht jetzt mit ihr?«
    Cal zuckte die Achseln und drehte den Kopf in die andere Richtung. »Es war dumm von ihr, es überhaupt zu versuchen, wenn sie wirklich zu alt ist. Jeder weiß, dass sie einen dann nicht reinlassen.«
    Das klang hartherzig, doch Cal tat nur so, als berühre es sie nicht. Die Art, wie sie mit dem Bein wippte und die Arme eng um ihren Körper schlang, sagte Retra, dass sie Angst hatte.
    Da ein Seal nicht viel sprach, hatte Retra zu deuten gelernt, was die Leute mit ihren Händen und Körpern taten. Sie hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt, doch fielen ihr die richtigen Worte nicht ein. Und sie war sich nicht sicher, ob es Cal recht wäre.
    Stattdessen stand sie auf und ging zum Bug zurück den gleichen Weg, den sie gekommen war.
    Es wurde kälter, während sich die Motoren durch die Wellen schoben. Nebel kroch über den Bug und hüllte die Fähre so ein, dass die Ketten der Partylichter zu einem Regenbogen wurden.
    Gesprächsfetzen wehten herüber, während Retra den Kuchen probierte. Er schmeckte fremdartig, aber nicht schlecht, und stillte schon einmal den schlimmsten Hunger.
    »In Grave gibt’s für alles Regeln«, sagte ein Mädchen. »Und die Glocken. Alles richtet sich nach den Glocken. Seit ich zwölf bin, warte ich darauf, hierherkommen zu können.«
    Andere stimmten zu. Niemand sprach davon, dass er sein Zuhause oder seine Familie vermisste, alle freuten sich über die gelungene Flucht vor Buße, Gebeten und Isolation.
    Ich bin nicht wie sie , dachte Retra.
    Sie sehnte sich weder nach Partys noch nach Spaß. Alles, was sie wollte, war, Joel zu finden und sich wieder sicher zu fühlen. Der vertraute Schmerz in ihrer Brust meldete sich erneut – der, der sie dazu getrieben hatte, ihr Zuhause zu verlassen und ihren Bruder zu suchen. Wie lange war er schon fort? Wie lange wachte sie schon morgens mit diesem Gefühl der Schwere auf, das ihr auf das Herz drückte? Endlose, endlose Tage, in denen sie sich verloren fühlte.
    Hat er sich genauso wie ich in eine dunkle Ecke dieses trostlosen Schiffes geduckt?
    Nein . Joel duckte sich nie, nicht einmal vor ihrem Vater oder dem Rat der Seal-Enklave. Er hatte immer schon einen starken Willen gehabt, er wollte lesen, wonach es ihn verlangte, und tun, was ihm beliebte. Er hatte zwar versucht, ihr beizubringen, genauso zu sein, doch sie war zu ängstlich gewesen. Das eine Mal, als sie sich etwas getraut hatte, war sie erwischt worden – das war, als sie die Angel Arias gehört hatte. Joel hatte sich vor sie gestellt. Hatte die Schuld auf sich genommen.
    Einerseits tat es ihr gut, an diesen Tag zurückzudenken, andererseits wünschte sie, er hätte den Mund gehalten, so wie man es sie gelehrt hatte. Denn wenn er den Mund gehalten hätte, hätte Vater ihn nicht mit der Schlangenpeitsche geschlagen, und er wäre nicht weggelaufen und hätte sie nicht allein gelassen.

2
    Lärm weckte Retra aus einem unruhigen Schlummer. Fröstelnd und verwirrt sah sie sich nach der Quelle der Störung um und stand dann auf, um über die Reling zu spähen. Dort, wo sie auf den Rumpf der Fähre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher