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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Marianne de Pierres
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leise. »Du kannst von Glück sagen, dass dich Ruzalia nicht mitgenommen hat. Sie weiß immer genau, wer auf der Fähre ist. Keiner hat eine Ahnung, wie sie das herausbekommt. Aber so ist es.«
    Bei dem Gedanken daran musste Retra zittern. Was sie getan hatte, um Joel wiederzusehen – der Schmerz. Wenn die Piratin sie verschleppt hätte … »Warum tut sie das?«
    Markes zuckte die Achseln. »Schwer zu entscheiden, was wahr ist. Die einen sagen, sie wolle sie retten. Die anderen glauben, sie wäre pervers und grausam und würde sie wie Haustiere halten. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.«
    »Was auch immer.« Cal zupfte an Markes’ Arm, bis er sie ansah. »Die Alte hat es verdient. Nach Ixion darf man nicht, wenn man alt ist.«
    Im Scheinwerferlicht war zu erkennen, dass Cals weißes Haar ein herzförmiges Gesicht umrahmte, das durch die zart geschwungenen Lippen und die blauen Augen mit den langen Wimpern noch hübscher wurde. Sie war auf eine Art attraktiv, um die Retra sie sofort beneidete.
    Nicht, dass Retra viele Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte – die Frauen in der Seal-Anlage trugen Schleier und die Männer Kapuzen, die auch ihre Wangen bedeckten. Aber Cal war schön.
    »Es ist nicht richtig, dass sie vorgibt, sie wäre jung genug für Ixion«, fuhr Cal fort. »Sie hatte doch ihre Chance hierherzukommen, als sie jünger war. Das ist unser Ort. Unsere Zeit.«
    »Wir geben alle manchmal vor, etwas zu sein, das wir nicht sind. Und manchmal lassen wir etwas viel zu spät hinter uns.« Dass er mit ihr keineswegs einer Meinung war, zeigte Markes, indem er sich wieder Retra zuwandte.
    Er streckte die Hand aus und wischte mit dem Finger über Retras Wange. »Da ist Blut von Ruzalias Klinge. Du hast keinen Mucks gemacht, als sie sie auf dich gerichtet hatte.«
    Retra zitterte. Sie wusste nicht, was sie mit der Bewunderung in seiner Stimme anfangen sollte oder mit den Reaktionen ihres Körpers auf seine Berührung. Sie war nicht aus denselben Gründen wie Cal auf dem Weg nach Ixion: Partys und Jungs. Sie wollte nur ihren Bruder finden.
    Ich kann so nicht mehr leben, Retra , hatte Joel zu ihr gesagt. Ich ersticke .
    Ihr Bruder war immer schon ein impulsiver Mensch gewesen. Hitzig. Ohne ihn war ihr kalt gewesen. Aber jetzt gerade wärmten sie Markes’ Berührung und sein sanfter, fester Blick.
    »Ja, es ist überall. Du solltest dich sauber machen, du siehst ganz furchtbar aus«, sagte Cal. »Wir kommen bald nach Ixion.«
    In der plötzlichen Stille, die zwischen ihnen entstand, schienen die Motoren lauter zu dröhnen als vorher. Es klang, als strengten sie sich an voranzukommen.
    Retra biss sich auf die Zunge und runzelte die Stirn. Cal wollte mit Markes allein sein, das war offensichtlich. Als sie zu ihm hinübersah, bemerkte sie, dass er sie anstarrte. Doch er sagte nichts und bot ihr auch nicht an, sie zu begleiten.
    Unter Markes’ prüfenden und Cals missbilligenden Blicken tastete sie nach dem Geländer und machte sich auf die Suche nach einer Waschgelegenheit.
    Der Waschraum befand sich auf der anderen Seite der Kabine . Retra wartete in der Schlange, bis sie an der Reihe war, und zwar mit gesenktem Kopf, damit niemand das Blut in ihrem Gesicht sah. Sie hörte zu, wie sich die anderen unterhielten, über Ruzalia und Ixion. Manche klangen aufgeregt, andere ängstlich.
    »Ich habe gehört, Ruzalia wäre nach Ixion abgehauen, doch dann hat es ihr dort nicht gefallen. Deswegen fing sie an, Menschen zu entführen, um einen eigenen Ort zu gründen …«
    »Das ist doch dumm. Wie kann man Ixion nicht mögen? Ixion bedeutet Freiheit.«
    »Hast du ihr Boot gesehen? Und die riesigen Fledermausviecher …«
    »Sie hat einen Riper getötet. Sie haben seine Leiche in die Küche gebracht. Ich habe gesehen, wie sie ihn dorthin gezogen haben …«
    »Es ist überall, an allen Wänden.«
    Retra fasste sich ans Gesicht. War das das Blut des Ripers? Ihr wurde übel.
    Die Toilettenkabine war jetzt frei, sie stolperte hinein. Weil die Tür nicht abzuschließen war, rammte sie den Absatz dagegen. Hastig löste sie den Schleier und bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, obwohl es eiskalt war. Einen Spiegel gab es nicht, aber Retra brauchte auch keinen. Sie war es gewohnt, sich auch ohne zu waschen und anzuziehen. Seals glaubten, dass Spiegel Eitelkeit förderten.
    Deshalb kannte sie die Konturen ihres Gesichts gut genug, um jetzt mit geübten Fingern zu überprüfen, ob Stirn und Wangenknochen sauber waren, und dann
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