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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Marianne de Pierres
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hatte schon zu viel gesagt.
    »Aufseher? Du hast einen Aufseher? Was hast du verbrochen?«
    Retra ließ den Kopf sinken. Der Aufseher war ihrer Familie zugeteilt worden, nachdem Joel verschwunden war, doch da s wollte sie Cal jetzt nicht sagen – und auch sonst nichts weiter.
    »Außerdem: Familie zählt nicht.« Cal stand auf. Sie war nicht sehr groß. Das weiße Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. In Grave Nord mussten die Mädchen ihr Haar zusammengebunden tragen, aber Cal hatte ihres schon gelöst. Der Anblick machte Retra verlegen.
    Sie sah dem Mädchen nach, bis sie in der großen Kabine verschwunden war. Aus derselben Richtung wehten Stimmen heran. Bestimmt waren die anderen Ausreißer dort unten. Vielleicht sollte sie zu ihnen gehen. Dort gab es möglicherweise was zu essen und zu trinken. Das letzte Mal hatte sie vor gut einem Tag etwas gegessen. Mutter hatte geschmorte Leber mit Süßkartoffeln und Spargelbohnen gemacht. Dasselbe hatten sie auch an dem Abend gegessen, als Joel weggerannt war. Die Nacht, als sie auf Bewährung gesetzt wurden. Die Nacht, in der der Aufseher Retra den Gehorsamkeitsstreifen an den Oberschenkel geklammert hatte. Dann hatte er überall im Haus Elektroaugen platziert, um der Familie beim Essen, Trinken und der Verrichtung anderer persönlicher … Dinge zusehen zu können.
    Vater hatte den Eingriff in seine Privatsphäre wie eine Buße ertragen. Mutter hatte es vor lauter Trauer kaum wahrgenommen. Aber Retra fand es furchtbar. Sie fing an, sich noch in nassem Zustand in der Duschkabine anzukleiden, um dann den ganzen Morgen über in den feuchten Kleidern zu zittern.
    Ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Der Schmerz holte sie in die Gegenwart zurück. Sie schüttelte die Beine, um sie zu lockern, und stemmte sich hoch. Nach ihrer letzten Mahlzeit hatte sie ganz bewusst nichts mehr gegessen, nur Moosbeerensaft gegen den Hunger getrunken.
    Manchmal muss man sich vor Schmerz übergeben. Deshalb sollte der Magen besser leer sein. Auch das hatte Joel gesagt.
    Aber jetzt musste sie etwas zu sich nehmen, bevor sie zu schwach wurde. Trotzdem hatte sie Angst. Konnte sie hier gefahrlos etwas essen? Was, wenn die anderen auf der Fähre ganz genauso waren wie Cal? Was, wenn sie Seals verachteten? An größere Gruppen von Menschen war sie nicht gewöhnt. In der Anlage der Seals war es den Jugendlichen verboten, sich zu versammeln.
    Was ihr nichts ausgemacht hatte. Nicht solange Retra Joel gehabt hatte. Aber nachdem er fort gewesen war, hatte die Einsamkeit an ihr genagt wie ein räudiger Hund an einem trockenen Knochen. Damals hatte sie angefangen, das Ertragen von körperlichem Schmerz zu trainieren. Es lenkte sie von ihrer Traurigkeit ab. Doch jetzt, da sie sich auf dem Weg nach Ixion befand, war aus der Traurigkeit eine dumpfe Furcht geworden.
    Sie ergriff das Geländer und ging daran entlang bis zur Kabine. Schritte zu zählen beruhigte sie.
    Von der Haustür ihrer Eltern über das graue Kopfsteinpflaster des Haupthofes und die Gehwege bis zum Zaun, der die Anlage der Seals umgab, waren es 1592 Schritte. Viele Male hatte sie sie im Stillen mitgezählt. Dann dachte sie nur noch an die Zahlen und spürte die Traurigkeit nicht mehr. Das Tor der Anlage war verschlossen; es öffnete sich nur an Sonntagen, wenn die Händler aus Grave die Lebensmittel brachten.
    Nach 1492 Schritten begann der Gehorsamkeitsstreifen zu glühen, dann kam auch der Schmerz. Einhundert Schritte vor dem Zaun. Ganz plötzlich setzte er ein, ließ etwas nach, und wurde danach wieder stärker. So wie der Schmerz bei der ersten Berührung eines Brandeisens, der kurz aussetzt, wenn die Endorphine wirken, nur um bald darauf zu einer unentrinnbaren Qual zu werden, wenn sich das Eisen tiefer in die Haut frisst.
    Retra wusste, wie es sich anfühlte, gebrandmarkt zu werden. Die Mädchen und Jungen der Seals erhielten ihr Zeichen in der Pubertät. Die, die stark waren, gaben keinen Laut von sich, wenn sich das heiße Eisen in ihr Fleisch brannte. Retra war aber nicht stark gewesen. Damals.
    Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig … Der Schmerz war verebbt, jetzt zählte sie nur noch, um sich zu beruhigen.
    Als sie an der Kabine ankam, wurde sie langsamer. Fünfzig. Einundfünfzig . Einmal darum herum. Ihr Blick fiel auf ein paar Stufen, dann sah sie das breite, flache Heck, das von schimmernden Kugeln erleuchtet wurde, die an unsichtbaren Fäden über einem Biertisch baumelten.
    Ein paar der Ausreißer
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