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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Autoren: Die Geiseln
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jünger war als sein Bruder, repräsentierten sie zwei völlig unterschiedliche Generationen. Mehr als das Alter wirkte sich dabei aus, dass Radovan in Jugoslawien groß geworden war. Vasa hingegen war zunächst mitten im Chaos des zusammengebrochenen Staates, danach aber in Schweden aufgewachsen, wohin der Vater ihn und seine Schwester Mila nach dem Tod der Mutter in die Obhut von Verwandten gegeben hatte. Vor allem jedoch unterschieden sich Vasa und Radovan im Charakter. Vasa war von klein auf ein Bücherwurm gewesen und hatte es in Schweden bis zur Universität gebracht, auch wenn er mit seinem Examen in Staatswissenschaften einige Jahre im Rückstand lag. Radovan aber war bis ins Mark ein Mann der Tat. »Sie folgen uns«, sagte der Vater plötzlich auf Serbisch. Vasa blickte erneut in den Spiegel, aber die Straße war leer. »Wieso?«
    »Der Gefängnisdirektor gibt nicht auf. Der Mann hält sich für einen harten Typen. Er will es allen zeigen.«
    »Er soll zeigen, was er will. Wir haben die schwereren Geschütze und die bessere Strategie«, gab Vasa zurück. Das sorgte nicht für bessere Stimmung, und schon waren ihm seine Wort peinlich. Er merkte, dass er vor seinem Vater noch immer dieselbe halbwüchsige Rotznase war wie früher. Und das schwarze Schaf der Familie.
    »Ihr seid ein großes Risiko eingegangen«, sagte der Vater in Richtung Rücksitz.
    Vasa ärgerte sich, weil der Vater das Wort an Radovan richtete. Allerdings löste der Tonfall Erleichterung in ihm aus. Er klang dankbar und stolz, also akzeptierte der Vater ihre Aktion.
    »Das Risiko ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick aussieht«, erwiderte Radovan. »Die Finnen werden das Leben der Geisel nicht gefährden. In diesem Land traut sich keiner, Waffen einzusetzen.« »Hoffen wir es.«
    Vasa blickte kurz auf die Karte, dann sah er wieder auf die zwischen Feldern verlaufende Straße. Die Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Sein Vater überging ihn, als wäre er Luft, dabei hing alles von Vasas Kompetenz ab. Drei Überfälle auf Geldtransporter, ohne erwischt zu werden, ja ohne einen einzigen Zusammenstoß mit der Polizei, das war keine schlechte Leistung. Dennoch wollte Radovan - vom Vater ganz zu schweigen - dem keinen Wert beimessen, sie waren der Meinung, Vasa sei mit einer »schmutzigen Bande« unterwegs gewesen. Aber offensichtlich schien ihnen jetzt auch die in der »schmutzigen Bande« gesammelte Erfahrung recht zu sein. Vasa gab sich Mühe, seinen Zorn herunterzuschlucken. Er wollte ebenso ruhig und gereift erscheinen wie Radovan. Das war nicht einfach, denn Vasa hatte wie seine Schwester Mila eine Portion Künstlertemperament von seiner Mutter geerbt.
    Vasa drosselte die Geschwindigkeit. Für seinen Geschmack war das Auto zu weich gefedert, außerdem mangelte es der Lenkung an Präzision. In Schweden hatte er deutsche Autos benutzt, die für Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen gebaut waren und denen die Volvos der Polizei nicht hätten folgen können, wenn es eng geworden wäre. Zu einer Verfolgungsjagd war es aber zum Glück nie gekommen. Die schwedische Polizei ging für die Festnahme von Kriminellen nicht das Risiko eines Arbeitsunfalls ein. Geld war für die Schweden bloß Geld, davon gab es im »Volksheim« seit Generationen genug, sie hatten keine Lust, sich deswegen unnötig verrückt zu machen.
    Über Finnland wusste Vasa so gut wie nichts. Eigentlich sollte man den Feind stets aus eigener Erfahrung kennen, aber er war auf Radovans Schilderungen angewiesen. Die finnische Fahne mit dem blauen Kreuz auf weißem Grund war für seinen Bruder im Lauf der Jahre zum Symbol des Bösen geworden. Finnland hatte die Bombenangriffe der Nato geduldet, ein finnischer »Vermittler« hatte Milosevic zu einem schändlichen Frieden gezwungen, ein anderer Finne hatte der UNVerwaltung im Kosovo vorgestanden, und die Finnen hatten sich den KFOR-Truppen der Nato angeschlossen. Und zu allem Überfluss war der Vater nach Finnland verlegt worden, um dort seine Strafe abzusitzen. Vasas unvollendete Examensarbeit in internationaler Politik befasste sich damit, wie die internationalen Medien über den Kosovokrieg berichtet hatten. Als einen Beispielstaat hatte Vasa Finnland gewählt, wo die einseitigen Informationen aus der Propagandamaschinerie der Nato den Status der einzig richtigen Wahrheit angenommen hatten. Je mehr Vasa in den vergangenen Wochen mit eigenen Augen von diesem Land gesehen hatte, umso mehr hatte er
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