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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens
Autoren: Helena Reich
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drücken wollten; wo es nur ein paar Schritte zum Café Louvre waren und seinen Billardtischen oder zur Pizzeria Kmotra, wo ihm die Pizza zwar nicht besonders schmeckte, deren unterirdischen Schankraum er aber für alle Zeit mit seinen ebenso seltenen wie heiß ersehnten Besuchen im Prag der Neunzigerjahre verbinden würde und den zahllosen Mittagessen mit Ota; wo Cajthaml die Kaffeegläser so vollmachte, dass kein Mensch außer ihm sie tragen konnte, ohne etwas zu verschütten; wo Medas unwahrscheinlich hohe Absätze durch die Gänge klapperten; wo … ach, es gab viele Gründe, zurückzukehren. Die Arbeit machte ihm Spaß, das war sicher nicht der unwichtigste. Aber jetzt hatte er Hermiona, die seine Zeit brauchte, seine Aufmerksamkeit, seine Liebe. Eine ganz neue Welt hatte sich plötzlich vor ihm aufgetan, eine Welt, die er fast vergessen hatte, voller Neugier und Wissensdurst, voller Fragen, die zu Antworten führten, die noch mehr Fragen nach sich zogen, voller erster Male, voller Gefühle, die Achterbahn fuhren ohne Bremse. Er hatte zwölf Jahre ihres Lebens verpasst – die nächsten wollte er in vollen Zügen genießen. Er hatte ja noch sein anderes Standbein, ein Spielbein eher, sein Hobby, das mal sein Beruf werden sollte und es kurze Zeit auch war. Erst im November hatte ihn der Dekan der Fakultät, an der er gelegentlich Seminare hielt, gefragt, ob er nicht eine Vollzeitstelle wolle, er würde ihn sofort als Dozenten einstellen, die Professur würde in Kürze folgen. Ein verlockender Gedanke, dachte er nun, er hätte mehr Zeit für Hermiona und für Magda und deren Kinder, wenn sie wiederkommen würden, mehr Freiheit für sich selbst, mehr Ruhe in seinem Leben, lauter verhältnismäßig intelligente Menschen um sich herum, mit denen er zu tun hätte – jedenfalls deutlich fitter im Kopf als der durchschnittliche Kriminelle, keine nächtlichen Einsätze, kein Mord und Totschlag, keine tragischen Lebens- und Liebesgeschichten, keine dramatischen Ereignisse – abgesehen von intellektuellen Bosheiten zwischen Professoren und verschwundenen Büchern aus der Bibliothek, ein gelassenes Leben, wie ein langer, ruhiger Fluss, keine Stromschnellen, geschweige denn Wasserfälle. Ein Traum. Ein Albtraum. Kein Abenteuer, wenn man mal vom hochintellektuellen Abenteuer der Verteilung der Primzahlen auf dem Zahlenstrahl oder ähnlicher mathematischer, meist altehrwürdiger und seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, geduldig ihrer Lösung harrender Probleme absah. Kein Adrenalinstoß mehr, wenn das Telefon klingelte; keine Larissa, die in sein Büro gestürmt kam mit irgendeiner hanebüchenen Vermutung; keine schlaflosen Nächte mehr, weil er einen Fall nicht knacken konnte; keine Genugtuung mehr, die Richtigen von der Straße geholt zu haben; keine spannenden Fachsimpeleien mehr mit Jirka bei einer Tasse von dem mörderischen Gebräu, das er Kaffee nannte, oder über aufgeschlitzten Leichen in der kahlen Prosektur; keine Meda mehr, die ihn mit ihrer Sturheit und Diskussionsfreude oft genug an den Rand des Wahnsinns trieb und damit irgendwie mitten hinein in die Lösung; und kein Ota mehr, der sich alle naselang in ein anderes junges Mädel verguckte, weil er fast panisch auf der Suche nach Fräulein Richtig war, mit der er endlich die eine großartige, unschlagbare Fußballmannschaft in die Welt setzen könnte, die nicht nur eines fernen Tages wieder an der Fußballweltmeisterschaft teilnehmen, sondern sie selbstverständlich auch gewinnen würde; Ota, der nur unter Androhung von Gewalt bereit war, über den geistigen Tellerrand des böhmischen Beckens hinauszuschauen und mit Zähnen und Klauen an seinen zahlreichen Vorurteilen festhielt, der aber ein großes Herz für alle Einsamen, Verletzten, Getretenen und Verfolgten hatte – vorausgesetzt, sie ließen pflichtschuldigst ihre Finger von anderer Leute Eigentum und körperlicher Unversehrtheit. Ruhe – Abenteuer, Zeit – Familie, Träume – Irrwege … verdammt und zugenäht …
    »Bist du noch dran?«, fragte Ota.
    »Entschuldige, ja, ich war ganz in Gedanken. Was hast du gesagt?«
    »Verträumt wie üblich, scheinst deinen Tod ja wohlbehalten überlebt zu haben, ohne größere Blessuren an den grauen Zellen. – Ich wollte nur wissen, wann du zurückkommst. Ins Büro.« Dass dort eine große Fete geplant war, verschwieg er wohlweislich. Er wusste, dass David kein Fan solcher Festivitäten war, aber es war ja auch eigentlich eine Fete für die Kollegen, die
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