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Reigen des Todes

Reigen des Todes

Titel: Reigen des Todes
Autoren: Gmeiner-Verlag
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1911
     
    »Wenn der Ernst des Lebens wüsste, wie ernst das Leben ist, er würde sich nicht erfrechen, die Kunst heiter zu finden.«
     
    Karl Kraus, Wien 1911.
     
     
     
     
     
     
    Steine, Planken, Scherben, eingeschlagene Scheiben, misstrauische, feindselige Menschen mit von vielerlei Entbehrungen gezeichneten Gesichtern. So erlebte Joseph Maria Nechyba am Montag, dem 18. September 1911, die Ottakringer Vorstadt. Er nahm es grimmig zur Kenntnis. Grimmig deshalb, weil er von den Ereignissen des Vortags schockiert und verärgert war. Da hatten zehntausende Menschen gegen die in unermessliche Höhen gekletterten Lebensmittelpreise protestiert. Vor dem Rathaus war die Wut der Massen außer Kontrolle geraten. In der darauffolgenden Straßenschlacht war Joseph Maria Nechyba zum Glück nicht involviert gewesen, da er gestern dienstfrei gehabt und mit seiner Frau Aurelia einen Ausflug zu einem Heurigen am Nussberg gemacht hatte. Eine Gruppe der Demonstranten war nämlich nach Ottakring hinausgezogen, wo es vor dem Arbeiterheim zu einer regelrechten Schlacht gekommen war. Da die Sicherheitswache zahlenmäßig unterlegen war, rückten Kompanien der k.u.k. Infanterieregimenter N° 42, N° 67, N° 99 sowie ein Bataillon des bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments N° 1 aus. Mit aufgesetzten Bajonetten waren die Soldaten gegen die unbewaffneten Menschen vorgegangen. Es gab unzählige Verletzte, ein Arbeiter war getötet worden. All das ging Nechyba durch den Kopf, als er gemeinsam mit Pospischil in der Haymerlegasse 27 ankam. Das Stiegenhaus war voll von Leuten, die aufgeregt miteinander diskutierten. Vor einer Wohnungstür im Erdgeschoss stand ein Sicherheitswachebeamter. Nechyba grüßte, wies sich aus und wurde gemeinsam mit Pospischil in die kleine Wohnung eingelassen. Hier waren bereits die Beamten des zuständigen Kommissariats sowie der Staatsanwalt anwesend. Betretene Gesichter und blankes Entsetzen. Im Zimmer der Wohnung lag auf dem Sofa eine nackte Frauenleiche mit zerschnittener Brust und aufgeschlitztem Bauch. Ihre Weichteile waren herausgerissen und auf dem Sofa sowie auf dem Boden verstreut. Nachdem Nechyba einen heftigen Brechreiz niedergekämpft hatte, bat er die Anwesenden, die alle sehr blass im Gesicht waren, das Zimmer zu verlassen. Gemeinsam mit Pospischil und dem Leiter des Kommissariats begann er, den Tatort zu untersuchen. Der Kommissär berichtete ihm, dass die Ermordete der gewerbsmäßigen Prostitution nachgegangen war, sich unter sittenpolizeilicher Aufsicht befunden hatte und Franziska Hofer hieß. Irgendetwas an der Toten irritierte Nechyba. Er fühlte einen seltsamen Zwang, immer wieder ihr Gesicht zu betrachten. Im Zuge der Arbeit machte Pospischil eine grausige Entdeckung: In einer Ecke fand er die Leber der Toten. Offensichtlich hatte sie der geisteskranke Mörder aus ihrem Körper herausgetrennt und weggeworfen. Pospischil reichte es. Er bat Nechyba um eine kurze Pause. Alle drei Männer traten auf den Gang hinaus, Pospischil und der Kommissär zündeten sich Zigaretten an. Nechyba blätterte inzwischen in den Papieren einer Mappe, die er im Kasten unter einem Stapel Wäsche gefunden hatte. Wie betäubt durchforstete er diverse Briefe, die die Ermordete offensichtlich von Verehrern bekommen hatte. Er nahm sich vor, all das im Büro genau durchzulesen und nach Möglichkeit die Verfasser der Briefe aufzuspüren. Vielleicht war einer von ihnen der Mörder. Als er die Mappe zuklappen wollte, fielen einige lose Blätter auf den Boden. Auf einem stand zu lesen: ›Der eifersüchtige Bruder. Ein Drehbuchentwurf von Stefanie Moravec‹.
    Diese Entdeckung traf Nechyba wie ein Peitschenschlag. Ohne ein Wort zu den anderen zu sagen, ging er in die Wohnung zurück, trat auf die Tote zu und musterte sie lange. Nun war ihm klar, warum er sie schon vorher dauernd angestarrt hatte. Zweifellos sah er in das etwas gealterte und von einigen feinen Narben gezeichnete Gesicht der Steffi Moravec. Mit zitternden Fingern blätterte er nochmals die Mappe durch, bis er auf den Drehbuchentwurf stieß. Der Beginn der Geschichte war praktisch identisch mit dem Drehbuchentwurf, den er seinerzeit von Schöberl erhalten hatte. Die Handlung nahm jedoch einen anderen Verlauf, als das nackte Mädel um den Deutschmeister-Offizier herumtanzte. Da klopfte es plötzlich an der Tür, ein junger Soldat trat ein und umarmte sie. Ihr Bruder! Als der den spärlich bekleideten älteren Mann sah, wurde er wütend, stieß das
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