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Rechnung offen

Rechnung offen

Titel: Rechnung offen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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hartes Brot. Der nächste Ton trieb sie nach vorn, dieses Mal war es ihre Klingel, zur Tür, zur Tür, sie war nackt. Nahm ein Shirt vom Boden, es roch nach Schweiß, herbe Buttersäure und Talg, zog es über den Kopf, der Rock lag daneben, er war blickdicht, sie brauchte keine Unterwäsche. Bedächtig setzte sie die Füße auf, ging in den Flur, näherte sich dem Türspion.
    Auf der anderen Seite stand ein Mann. Blond, sehr blond, die Augen grau, seltsam nackt, keine Wimpern, dachte sie, helle Brauen, hochgezogen zu spitzen Dreiecken, er fuhr zurück, als sie die Tür öffnete.
    »Entschuldigung«, sagte er, »meine Großmutter«, sagte er, »sie wohnt nebenan.«
    Kühlere Luft aus dem Treppenhaus strömte an Ebba vorbei, ließ sie den Geruch der Wohnung wieder wahrnehmen, saure Feuchtigkeit und alter Rauch. Er musterte sie, ihre Augen verquollen, Pupillen gerötet, sie hatte mit Zopf geschlafen, sich nicht gekämmt, die Zähne nicht geputzt. Auf dem T-Shirt Flecken, Kaffee, richtig, darum hatte sie es ausgezogen und auf den Boden geworfen. Ebba verschränkte die Arme, der Schweißgeruch ihrer Achseln wurde stärker, sie presste die Oberarme an den Körper, wollte ihn dazwischen begraben.
    »Haben Sie mitbekommen, ob etwas passiert ist«, fragte er, als Ebba nichts sagte.
    Sie hatte sich hier sicher gefühlt. Gut versteckt zwischen Gemüsehändlern, Wettbüros, Dönerimbissen, 99-Cent-Läden, Lidl-Märkten und Kneipen, in deren Schaufenstern Silvestergirlanden bleichten. War mit dem Gefühl durch die Straßen gegangen, eine von den Begünstigten zu sein, nur vorübergehend hier, zufällig, die anderen dazu verdammt. Die Invasion hatte im letzten Jahr begonnen. Im Sommer waren sie braungebrannt, im Winter rotwangig, saßen mit Laptops in Cafés, in Eile auf ihren Fahrrädern, verabredet, immer verabredet, und immer lockte sich irgendwas um ihre Gesichter.
    »Arzt, Rettungswagen? Irgendwas?«
    Ebba schüttelte den Kopf, war nicht sicher, ob sie gestern die Zähne geputzt hatte, fuhr mit der Zunge drüber, mit Moos bewachsen, so fühlten sie sich an. Sie hatte ihre Wege reduziert, sich angewöhnt, stehen zu bleiben, ehe sie die Haustür aufdrückte, durch die geriffelte Scheibe zu spähen, meist war nichts zu sehen, außer verwischte bunte Flecken, die vorbeizogen. Und wenn sie auf den Gehweg trat, tat sie es, als würde sie sich, Augen zu und durch, in ein Dickicht stürzen.
    »Bei meinem Vater ist eingebrochen worden«, sagte sie, als wäre es eine Rechtfertigung.
    »Das tut mir leid«, er war schon auf der Treppe.
    Er verschwand stufenweise, Ebba hörte den Schritten zu, schleifend auf den ebenen Geschossen, sie ging auf Zehenspitzen zur Brüstung, beugte sich vor, kurz sah sie seine Hand auf dem Geländer zwischen erstem und zweitem Stock. Leise zog sie die Tür ins Schloss, schob im Zimmer das Laken vor dem Fenster zur Seite und wartete. Er blieb stehen, sein Scheitel ein Strich geröteter Haut zwischen all dem Hellblond, sah rechts und links die Straße entlang, schließlich überquerte er die Promenade. Ebba hob den Arm, roch an ihrer Achsel, der Schweiß reizte die Nasenschleimhäute, sie sah zum Handy, es lag noch immer auf der Matratze, sie musste Theresa anrufen.
    Was hast du am Wochenende gemacht, würde Theresa fragen. Tagsüber gelernt, abends war ich feiern, würde sie sagen. Wo, würde Theresa fragen. Ebba sah aus dem Fenster. Dort, wo die anderen am Wochenende feierten. Die in der Berufsschule saßen, unter Fremden, ohne Angst zu kriegen. Und wenn sie nicht im Unterricht waren, dann, weil sie krank oder verletzt waren oder zu viel gefeiert hatten oder im Bett lagen, nackt verknäuelt mit einem anderen Körper.
    Schlimm waren die Nächte. Gestern war sie auf den Balkon gegangen, der Estrich unter den Füßen wärmer als die Luft. Ebba hatte sich vorgebeugt, hinabgesehen auf die Baumwipfel, zwei niedrigere Streifen außen, die Linden, darunter der Bürgersteig. Die Platanen in der Mitte waren höher, dunkelgrün tagsüber, schwarz in der Nacht. Die Blätter in den Blumentöpfen auf der Brüstung knirschten, als ihr Bauch sich gegen sie presste. Theresa hatte die Töpfe im Frühjahr gebracht, einige der Pflanzen waren nicht totzukriegen, trieben unbeirrbar grüne Blätter aus ihren ausgemergelten, staubbedeckten Stielen und Ästen und Stämmen. Ebba konnte niemanden sehen, nicht feststellen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen, sammelte mit spitzen Fingern braune Blattfetzen von ihrem Shirt. Sie
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