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Rechnung offen

Rechnung offen

Titel: Rechnung offen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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Nicolai berührte sie im Vorbeigehen mit der Hand, stellte sich vor, die Stirn an sie zu legen, seine Schläfen. Die Übelkeit hatte sich festgesetzt, zwischen Magen und Lunge, eine wabernde Schicht, die sich hob und senkte. Bei den ersten Stufen übersäuerten die Muskeln, er fühlte seine Oberschenkel, seine Waden, den Puls in den Ohren.
    Er hatte sie gestern besuchen wollen, es fiel ihm schwerer regelmäßig hinzugehen als am Anfang. Du musst, hatte er sich beschworen, an Helge im kalten Kühlschranklicht gedacht. Und pleite war er auch. Gestern war er trotzdem im Tier gelandet. Jahrelang war das Tier ein Dönerimbiss mit ein paar Tischen, einem stumm geschalteten Fernseher und zwei Spielautomaten gewesen. Die Bergfototapete war geblieben, wo die Automaten gestanden hatten, ragte ein Tresen aus gebürstetem Edelstahl in den Raum. Nicolai hatte sich ins Schaufenster gesetzt und zugesehen, wie das Tier sich füllte, auf Sebastian gewartet. Die Männer trugen Brillen, arbeiteten bei Agenturen, Ton, Text, Bild, was auch immer, sprachen von ihren traurigen Seelen und tranken polnisches Bier. Die Frauen waren schlank, viel gebräunte Beine, viel Sonnenblond. Er unterhielt sich mit einer Schauspielerin, sie sei zu schön für die hässlichen und zu hässlich für die schönen Rollen, wiederholte sie ständig. Sie tranken Wodka, viel Wodka, er zahlte. Sebastian kam nicht, sie redete von Castings, Agenten, bis sie irgendeinen Typen sah, den sie kannte, »ich bin gleich wieder da«, sagte sie. Auf dem Weg nach draußen hatte er sie noch einmal kurz im Gedränge gesehen.
    Nicolai drückte den Klingelknopf, hörte es in der Wohnung schrillen, legte die Hände hinter dem Rücken ineinander, artig, das mochte sie. Sie brauchte lange, er atmete ein, nicht ungeduldig werden, tief ein, die Übelkeit dehnte sich aus wie eine Wolke, an schwarze Tinte in klarem Wasser musste er denken, er hatte letzte Woche eine Dokumentation über Kraken geschnitten, musste aufstoßen, Saures in seinem Mund. Manchmal ließ sie ihn warten, mit Absicht warten. Nicolai konnte dann ihre zaghaften Schritte hinter der Tür hören, wie sie stehen blieb, vielleicht das Holz berührte. Oft gab sie nicht acht und der Türspion, das kleine Guckloch, verdunkelte sich. Wenn sie schließlich öffnete, war sie besonders freundlich. Seine Finger hingen einige Sekunden in der Luft, ehe sie erneut den Plastikknopf drückten. Er zählte die Sekunden, zweiundzwanzig, keine Schritte auf den Dielen, dreiundzwanzig, keine Tür wurde geöffnet, keine geschlossen, vierundzwanzig, kein Räuspern, nichts. Er sah sie vor sich, in ihrem Sessel, neben ihr das Telefontischchen mit den beigefarbenen Kacheln, auf die in Schwarz die Silhouetten westdeutscher Städte gemalt waren. Unter dem Telefon, grün und mit Wählscheibe, lag ein Deckchen, daneben ein Becher mit Stiften, Notizblock und Adressbuch in braunem Leder. Fünfundzwanzig, sie saß still, sechsundzwanzig, hielt den Atem an, siebenundzwanzig, traute sich nicht, ihr Gewicht zu verlagern, achtundzwanzig, hatte beschlossen, nicht mehr zu öffnen, neunundzwanzig, nie mehr. Unsinn, dachte er.
    Anfangs hatte er versucht, mit ihr zu reden. »Nur wir sind übrig«, hatte er gesagt und sie angesehen. Ihre Mundwinkel bewegten sich automatisch nach oben, schräg oben, sobald ihr Blick seinem begegnete, Lachfalten auf beiden Seiten, Grübchenstafetten. Die Mundwinkel rührten sich nicht, blieben oben, wenn er von Wurzeln und Genen sprach, von Ursulas Körper, der geschrumpft war, während ihre Haut die alte Größe behielt, von wachsenden Augen und verschwindenden Haaren. Wie festgesteckt, wie Stofffalten, mit Stecknadeln festgesteckt, jedes Grübchen eine Nadel. Sie zitterten nicht, senkten sich nicht, wenn er das Lächeln nicht erwiderte, sie nur ansah. Wohlwollend, wie er meinte, offen für eine Erklärung, Rechtfertigung, Trauer vielleicht. Sie lächelte mit geschlossenen Lippen, die Lippen dünnhäutig, als könnten sie jeden Moment reißen. »Hat Erika gemacht«, sie hatte auf die Tischdecke gedeutet, auf die altweiß gehäkelten Rosetten.
    Jansen stand auf dem Klingelschild der benachbarten Tür.
    ***
    Sie kamen wieder. Es war ruhig gewesen im Treppenhaus, Neun bis elf Uhr stand auf dem Aushang, im Fernsehen lief stumm das Mittagsmagazin, es war nach zwölf. Die Klingel schrillte erneut durch die Nachbarwohnung, Ebba stand auf, die Dielen kühl unter ihren bloßen Sohlen. Rau wegen der Krümel, die auf ihnen lagen, Tabak und
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