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Raus aus dem Schneckenhaus

Raus aus dem Schneckenhaus

Titel: Raus aus dem Schneckenhaus
Autoren: Hans Morschitzky , Thomas Hartl
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Schüchternheit ist in unserer Gesellschaft kein beliebter Charakterzug. In der westlich-industriellen Welt, die Eigenschaften wie Wortgewandtheit, Kontaktfreudigkeit, Selbstsicherheit und Durchsetzungsfähigkeit idealisiert, gilt Schüchternheit als Makel und Schwäche.
    Die belastenden Seiten der Schüchternheit erleben Betroffene beinahe täglich am eigenen Leib: Wer schüchtern ist, fühlt sich unter anderen Menschen körperlich und seelisch unwohl, steht nicht gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, vermeidet jede Auffälligkeit, sogar wohlwollende Zuwendung. Selbst eine öffentliche Ehrung anlässlich des Geburtstages oder einer besonderen Leistung wird als unangenehm oder peinlich erlebt – vor allem, wenn danach Dankesworte an die Anwesenden zu richten sind. Die Symptome sind altbekannt: das Herz pocht, die Kehle ist trocken, es wird einem flau im Magen. Schüchterne Menschen reden nicht gerne in der Öffentlichkeit, sie bleiben lieber im Hintergrund, wo sie sehr erfolgreich tätig sein können. Eine Beförderung als Folge ihrer Tüchtigkeit bereitet ihnen oft großen Stress, weil sie dadurch stärker im Mittelpunkt stehen.
    Es gibt aber auch positive Aspekte der Schüchternheit , die in der heutigen Gesellschaft leicht übersehen werden: Schüchternheit kann ein liebenswürdiger Charakterzug sein. Nach wie vor finden manche Männer gerade schüchterne Frauen charmant und anziehend – und umgekehrt. Schüchterne Menschen können oft gut beobachten und sehr aufmerksam zuhören, sich leicht in andere einfühlen, ihre Bedürfnisse sehr sensibel wahrnehmen und engagiert darauf reagieren. Sie wirken höflich, bescheiden, zuvorkommend und rücksichtsvoll, drängen sich ihren Mitmenschen nicht ungebeten auf und können in der Anfangsphase von sozialen Situationen die nötige Distanz wahren. Schüchterne heben sich angenehm ab vom völlig gegenteiligen Menschenschlag, der charakterisiert ist durch Distanzlosigkeit, Aufdringlichkeit, Ungehemmtheit,Selbstdarstellung, fehlende Selbstkritik, egozentrisches Denken, Fühlen und Handeln ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Während schüchterne Menschen übermäßig lange brauchen, um in sozialen Kontakten warm zu werden, überspringen aufdringliche Personen in unangenehmer Weise alle Phasen des näheren Kennenlernprozesses.
    Ein Lob der Schüchternheit? Zweifellos – vor allem in einer Welt, in der es immer härter und rücksichtsloser zugeht. Ohne die positiven Fähigkeiten der Schüchternen wäre die Welt ärmer und kälter. Viele Betroffene haben nur einen Kardinalfehler: Sie können zwar gut auf andere eingehen, jedoch zu wenig aus sich herausgehen, um ihre Bedürfnisse ausreichend zu vertreten und sich für sie einzusetzen.
Falsche Bilder von Schüchternheit in der Öffentlichkeit
    Über schüchterne Menschen sind viele falsche Meinungen im Umlauf, in der Bevölkerung ebenso wie bei Fachleuten. »Schüchtern« wird oft mit »sozial ängstlich« gleichgesetzt. Persönliche Lebenserfahrungen und Studien belegen jedoch übereinstimmend: Viele Schüchterne sind keineswegs sozial ängstlich und viele sozial Ängstliche sind überhaupt nicht schüchtern. Die häufigste »normale« soziale Angst – die Angst vor einer öffentlichen Rede – hat nichts mit Schüchternheit zu tun, sondern mit der Angst vor Blamage, und betrifft daher auch viele nichtschüchterne Menschen.
    Die Begriffe Schüchternheit und soziale Angst bezeichnen nicht dasselbe. Von zentraler Bedeutung ist folgende Unterscheidung: Schüchterne neigen in sozialen Situationen aufgrund ihrer anfänglichen Gehemmtheit zur Zurückhaltung, sozial Ängstliche dagegen versuchen häufig, soziale Situationen ganz zu meiden. Schüchterne ergreifen in unvertrauten Situationen nie die Initiative und bleiben lieber im Hintergrund, sie warten darauf, dass andere auf sie zugehen und ein Gespräch beginnen. Nach der »Starthilfe« durch andere Menschen können sie aber lockerer und durchaus sozial kompetent reagieren, während sozial ängstliche Menschen aus Angst vor negativer Beurteilung weiterhin angespannt bleiben. Schüchterne haben Angst vor jedem »ersten Mal«, sozial Ängstliche fürchten sich auch vor dem »x-ten Mal«, weil sie trotz positiver zwischenmenschlicher Erfahrungen das Restrisiko von sozialer Kritik und Ablehnung nicht tolerieren können. Schüchterne Menschen sind nicht menschenscheu in dem Sinne, dass sie soziale Kontakte vermeiden, wie zahlreiche Sozialphobiker dies tun. Sie verhalten
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