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Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter

Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter

Titel: Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Autoren: Robin Hobb
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Wolkendecke brach, schimmerte ihr Leib silbern. »Nicht mehr weit!«, hatte sie immer und immer wieder zu ihnen hinabgerufen. »Nach den Stufen wird das Wasser tiefer, dann könnt ihr wieder ungehindert schwimmen. Schwimmt weiter.«
    Manche waren schlichtweg zu zerschlagen, zu erschöpft oder zu ausgehungert für eine solche Reise. Ein großes orangefarbenes Schlangenmännchen starb um die Stämme des Zauns gewickelt, der die Becken mit aufgestautem Wasser einfasste. Er hatte es nicht geschafft, sich noch weiterzuschleppen. Als sein großer, keilförmiger Kopf unvermittelt ins Wasser geplatscht war, war Sisarqua nicht weit entfernt gewesen. Ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass er sich weiterbewegte. Dann hatte seine Mähne aus Dornen und Ranken gezuckt und einen letzten Strahl Gift versprüht. Auch wenn diese matten, kraftlosen Reflexe das letzte Aufbäumen seines Körpers waren, so hatte doch jede Schlange im Umkreis gewusst, dass er tot war. Der Duft und der Geschmack im Wasser hatte sie zum Schmaus geladen.
    Und Sisarqua hatte nicht gezögert. Als Erste hatte sie ihren Kiefer in sein Fleisch gestoßen, hatte ein Stück abgebissen und es hinuntergeschlungen. Und bevor der Rest des Knäuels überhaupt erst die Gunst der Stunde erkannte, hatte sie schon ein zweites Maulvoll aus dem Leichnam herausgerissen. Die plötzliche Stärkung machte sie beinahe ebenso sehr benommen wie die Flut seiner Erinnerungen. So war es unter Schlangen Sitte: Man ließ die Kadaver der anderen nicht verrotten, sondern nutzte ihre Nahrung und ihr Wissen. So wie jeder Drache die Erinnerungen seiner Ahnenreihe in sich trug, behielten auch die Schlangen das Gedächtnis derer, die vor ihnen gewesen waren. So sollte es jedenfalls sein. Sisarqua und die anderen, die sich trostlos mit ihr dahinschleppten, waren schon zu lange in Schlangengestalt gewesen. Irgendwann waren die Erinnerungen verblasst, und mit ihnen war der Verstand abgestumpft. Selbst viele von denen, die sich abmühten, die Reise zu vollenden und zu Drachen zu werden, waren nur noch tierhafte Schatten ihrer selbst. Was für Drachen wohl aus ihnen werden würden?
    Mit gesträubter Halsmähne war ihr Kopf erneut vorgeschnellt, um einen weiteren Fleischbrocken aus dem Leib des orangefarbenen Schlangenmännchens zu reißen. In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen von reichen Fischgründen und von Nächten unter kristallklarem Himmel, die er singend mit seinem Knäuel verbracht hatte. Die Erinnerung musste uralt sein. Vermutlich waren viele Jahrzehnte vergangen, seit das letzte Knäuel von der Fülle in die Leere aufgestiegen war, um seine Stimmen zum Lob des sternenbesetzten Himmels zu erheben.
    Dann war Sisarqua von anderen bedrängt worden, die sich im Kampf um das Festmahl gegenseitig anzischten und mit aufgestellten Mähnen drohten. Nachdem sie ein letztes Fleischstück aus dem Leib gerissen hatte, schlingerte sie über die Stämme hinweg, die den Orangefarbenen aufgehalten hatten. Unzerkaut hatte sie den letzten Brocken warmen Fleisches hinuntergewürgt, und nun fühlte sie, wie er ihre Speiseröhre angenehm weitete. Der Himmel, dachte sie, und wie zur Antwort spürte sie, wie sich in ihr die schwachen Drachenerinnerungen des Orangefarbenen regten. Der Himmel, weit und offen wie das Meer. Bald würde sie wieder unter ihm dahinsegeln. Nicht mehr weit, hatte Tintaglia versprochen.
    Doch für eine Drachin mit Flügeln bemaßen sich Entfernungen anders als für eine geschundene Seeschlange, die sich im flachen Wasser den Strom hinaufkämpfte. An jenem Nachmittag erreichten sie die Lehmbänke nicht mehr. So unvermittelt wie ein Axthieb fiel die Nacht über sie herein, und der kurze Tag war schon wieder vergangen, kaum waren sie aufgebrochen. Eine weitere Nacht musste Sisarqua die Kälte der Luft ertragen, der sie sich im flachen Wasser nicht entziehen konnte. Das Rinnsal, das an ihr entlangfloss, reichte kaum aus, um ihre Kiemen zu benetzen, und sie meinte, ihre Haut müsse von der trockenen, scheuernden Kälte Risse bekommen. Im Licht der Sonne, die am späten Morgen auf den breiten Strom zwischen den überwucherten Ufern schien, traten die Leichen weiterer Schlangen zutage, die ihre Reise niemals vollenden würden. Wieder hatte sie das Glück, von einem der toten Leiber fressen zu können, bevor die Horde sie verdrängte. Und wieder kreiste Tintaglia über ihren Köpfen und rief ihnen das Versprechen zu, es sei nicht mehr weit bis Cassarick und bis zur langen, friedvollen Ruhe der
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