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Rächerin der Engel

Rächerin der Engel

Titel: Rächerin der Engel
Autoren: Mary Stanton
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schoben. Ganz vorn standen zwei Steinvasen, die knapp zwei Meter fünfzig hoch waren. Zwei stämmige Burschen hoben eine an und drehten sich damit im Kreis. Es war beinahe wie im ersten Akt von Anatevka .
    Der Hauptaktionator hielt sich das Mikrofon dicht an den Mund und sagte mit leiser, vibrierender Stimme: »Diese beiden wunderbaren Kalksteinvasen stehen zum Verkauf, und zwar zu ein und demselben Preis, zu ein und demselben Preis. Höre ich da fünfhundert und ein kleines bisschen mehr ?«
    Der Auktionator war ein typischer Vertreter seines Berufs: mittleren Alters, mittelgroß, mit leichtem Schmerbauch und fröhlichem Grinsen. Wie alle älteren Angestellten des Auktionshauses war er wie ein Glücksspieler auf einem Flussdampfer gekleidet: rote Leinenweste, weißes Hemd, schwarze Hosen, dünne schwarze Krawatte. Die Jugendlichen hingegen, die die zum Verkauf stehenden Gegenstände heranschleppten, trugen Jeans, Tennisschuhe und weite rote T-Shirts, auf denen in großen Buchstaben die Wörter KUNST WELT prangten.
    Der Tonfall des Auktionators hatte etwas Hypnotisches. Das Geschrei, die Hintergrundsmusik, das Klatschen der Angestellten, das die Anwesenden zum Mitbieten animieren sollte – all dies verwirrte Bree. Sie setzte sich ein wenig aufrechter auf den Klappstuhl, um das Gefühl loszuwerden, sie sei in eine Fernsehshow geraten.
    »Höre ich vier fünfzig, vier fünfzig, vier fünfzig und ein kleines bisschen mehr ?«
    Antonia hob ihr Nummernschild und rief: »Zwanzig Dollar!« Obwohl Antonias Stimme sehr laut war – als angehende Schauspielerin hatte sie eine gute Sprecherziehung genossen –, schenkte ihr niemand Beachtung, bis sie schließlich aufsprang und brüllte: » FÜNFUNDZWANZIG Dollar!«, und zwar in einer Lautstärke, die noch die von Patti LuPone in Gypsy übertraf, wenn diese »Everything’s Comin’ Up Roses« schmettert.
    »Vielen Dank«, sagte der Auktionator, der sich von Antonias beleidigendem Niedriggebot in keiner Weise aus der Ruhe bringen ließ. »Höre ich fünfzig, fünfzig, fünfzig und ein kleines bisschen mehr ?«
    Streitlustig schob Antonia das Kinn vor und legte sich ins Zeug. Nach einigem lautstarken, äußerst lebhaften Hin und Her wurden ihr die Kalksteinvasen für fünfundvierzig Dollar zugeschlagen. Mit zufriedenem Grinsen lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück. »Bin ich nicht gut?«
    »Wie man’s nimmt«, erwiderte Bree. »Jedenfalls bist du so laut, dass du den armen Mann richtig eingeschüchtert hast. Was willst du überhaupt mit diesen Vasen anfangen?«
    Antonia verfolgte den Abtransport der Vasen vom Podium mit aufmerksamem Blick. »Die sind für George Bernard Shaw«, erklärte sie mit düsterer Miene. »Auch unter dem Namen Großer Langweiler bekannt. Hab ich dir nicht erzählt, dass wir im Savannah Rep Pygmalion aufführen werden? Ursprünglich wollten wir My Fair Lady inszenieren. Ich hätte es sicher geschafft, für die Rolle der Eliza vorsingen zu dürfen. Aber nein, John Allen Cavendish höchstpersönlich meinte, wir sollten auf das eigentliche Stück von Shaw zurückgreifen. Und das tun wir nun auch. Dieser alte Viktorianer war geradezu besessen von Szenen, die auf Rasen und Terrassen spielen, das kann ich dir flüstern. Außerdem hatte er ein Händchen dafür, jeden unter dreißig Jahren zu Tode zu langweilen, das heißt, Leute wie mich und dich, wenn auch in deinem Fall nur gerade noch so.« Antonia sah Bree finster an. »Wenn du irgendjemandem verrätst, dass ich das gesagt habe, dreh ich dir den Hals um. Das über Shaw, meine ich. Nicht dass du fast dreißig bist. Na, jedenfalls werden die Vasen der Terrasse einen hübschen englischen Landhaustouch verleihen, selbst wenn sie vor drei Wochen in China hergestellt worden sind. Ich werde sie mit künstlichem Efeu vollstopfen.« Plötzlich fasste sie sich an den Kopf und stöhnte. »Ich muss einfach weiterkommen, Bree. Ich will nicht ewig an dieser Inspiziententätigkeit kleben. Ich liebe alles, was mit dem Theater zusammenhängt, das weißt du ja. Aber ich will Schauspielerin sein!«
    Bree unterließ es, ihre Schwester mitfühlend zu tätscheln, obwohl sie es gern getan hätte. Antonia hatte den größten Teil der letzten Woche damit verbracht, für das gestrige Vorsprechen lange Passagen eines Shawschen Dialogs auswendig zu lernen. Doch das Ganze war eine einzige Pleite gewesen. Bei jeder neuen Inszenierung ging sie treu und brav zum Vorsprechen. Trotzdem sah es so aus, als würde sie noch eine Weile
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