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Radegunde von Thueringen

Radegunde von Thueringen

Titel: Radegunde von Thueringen
Autoren: Simone Knodel
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hinabgekommen und rechneten damit, am übernächsten Tag in Poitiers einzutreffen, berichtete die Novizin schließlich atemlos.
    „Wir sollten ihnen entgegenziehen!“
    „Nein, nein, zuerst müssen wir den Bischof benachrichtigen!“
    Alle redeten durcheinander, das Gewitter, das im einsetzenden Regen allmählich nachließ, war vergessen.
    Agnes hob die Hand. „Schwestern!“, rief sie laut. „Habt ihr vergessen, dass wir seit Wochen sorgfältig geplant haben, was zu tun ist, wenn uns diese Nachricht erreicht? Ihr kennt eure Aufgaben!“
    Die weißen Kutten, die soeben noch durcheinandergewirbelt waren wie Schafe, wenn der Wolf um den Pferch schleicht, kamen zur Ruhe.
    „Lasst uns den großen Lobgesang anstimmen!“, fuhr Agnes fort. „Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke …“
    Venantius, der im Gästehaus dem abziehenden Gewitter gelauscht hatte, hörte den zu dieser Stunde ungewöhnlichen Gesang der Nonnen. Er ahnte sofort, was er zu bedeuten hatte.
    „Giso, alter Gauner, hast es tatsächlich geschafft!“, murmelte er vor sich hin, dann stimmte er lauthals in den Choral ein: „… vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke!“
    Schwester Clara suchte am nächsten Morgen in Agnes’ Auftrag den Bischof Maroveus auf, um ihn zu bitten, während eines feierlichen Gottesdienstes den neuen Altar zu weihen und die kostbare Reliquie in der Altarnische niederzulegen. Da Radegunde nicht wusste, welche Größe das Holzstück haben würde, hatte sie noch kein Reliquiar anfertigen lassen. Auch die Altarnische war nur auf Vermutung gefertigt worden. Der Zimmermann hatte ihr jedoch versichert, dass sie jederzeit größer gearbeitet werden könne.
    Die Nonnen schmückten die Kirche mit Blumen, fegten den Hof blitzsauber und bereiteten Speisen für die Gäste vor. Jeder hatte seine Aufgaben, es gab jede Menge zu tun. Nach den Gebetsstunden übte Venantius wohl zum hundertsten Mal mit den Schwestern die Hymnen, denn die Prozession sollte auch musikalisch ein Höhepunkt werden.
    Radegunde fegte Spinnweben am Portal des Oratoriums, als Schwester Clara mit wehender Kutte über den Hof kam. „Mutter, Mutter!“ Sie schnaufte.
    „Was ist passiert?“
    „Der Bischof! Er sagt …“ Der Nonne versagte die Stimme, sie war scheinbar den ganzen Rückweg vom Haus des Bischofs gerannt.
    „Komm, setz dich hier ins Gras.“ Obwohl Radegunde besorgt war, was die Nachricht anging, zwang sie sich zur Ruhe.
    „Der Bischof sagt, er empfange die Reliquie nicht und er weihe auch unseren neuen Altar nicht. Er sagt, ein weiterer Altar und sogar ein Splitter vom Kreuz Christi für unser Kloster seien anmaßend und Größenwahn. Wir sollten …“ Sie verstummte ängstlich und bekreuzigte sich.
    „Sprich weiter!“, drängte Radegunde mit enger werdender Kehle.
    Schwester Clara sah sich furchtsam um und flüsterte: „Er sagte, wir sollten damit zum Teufel gehen!“
    Radegunde setzte sich neben sie ins Gras. Ihre Brust fühlte sich an, als hätte jemand ein dickes Seil darumgeschnürt. Wie sollte die Reliquie ohne Beistand eines Bischofs eingeführt werden?
    Sogleich stand sie wieder auf. „Ich werde selbst noch einmal hingehen. Vielleicht …“
    Clara schüttelte den Kopf. „Bemühe dich nicht, Mutter, er ließ die Pferde satteln. Es hieß, er begebe sich für die nächsten Tage auf sein Landgut.“
    „Das tut er nur, um sich vor seiner Pflicht zu drücken!“ Heiße Wut kam in ihr auf und sprengte den Ring um ihre Brust. „Aber er kennt mich noch nicht. Ich werde einen Weg finden!“
    Sie lief in die Kapelle. Dort kniete sie vor dem Kreuz nieder. „Vater, du sendest mir in deiner unendlichen Güte den Splitter vom Kreuz deines Sohnes. Zeige mir den Weg, diese heilige Gabe, wie es ihr gebührt, in Empfang zu nehmen!“
    Viele qualvolle Gedanken schwirrten in ihrem Kopf. Der Bischof war imstande, die Männer mit der Reliquie abzufangen und den kostbaren Splitter zu beschlagnahmen. Sie musste eine Möglichkeit finden, Giso zu warnen. Ihr Blick fiel auf das längliche, kunstvoll geschnitzte Reliquiar in der Nische des Altars, das den Fingerknochen Mammas’ enthielt. Das Geschenk des Klosters Tours zur Einweihung der Kirche Saint-Marie. Sie lächelte. Natürlich! Dort konnte die Reliquie vorläufig bleiben. Bei den Mönchen war sie sicher. Der Rest würde sich mit Sigiberts Hilfe finden. Sie verneigte sich vor dem Gekreuzigten. Dann eilte sie ins Skriptorium.
    Noch am selben Tag brach ein Bote auf,
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