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Radegunde von Thueringen

Radegunde von Thueringen

Titel: Radegunde von Thueringen
Autoren: Simone Knodel
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gleich morgen wollen wir beginnen, Melodie und Text einzustudieren. Doch jetzt lasst uns beten, dass unsere ersehnte Reliquie bald hier ankommt und alle Reisenden heil und gesund sind.“
    Die strahlenden Gesichter senkten sich andächtig. „Im Namen des Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat, …“
    Am späten Abend trat Radegunde nach ihrem Gebet aus der Kapelle, um den Sternenhimmel zu betrachten. Der Frühsommer diente mit milden Nächten und der Große Wagen strahlte über der nördlichen Stadt. Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die Vielzahl der Sterne zu begreifen, die über ihr leuchteten.
    „Wusstest du, dass die Sterne über Venetien die gleichen sind?“, ertönte eine Stimme neben ihr.
    Sie zuckte leicht zusammen. „Venantius, warum schleichst du dich an?“
    „Verzeih, doch ich konnte nicht schlafen. Ich habe den Himmel betrachtet, als ich dich plötzlich sah. Ich dachte, ein Komet erscheint mir, du leuchtest wie ein Schweifstern in deiner weißen Kutte. Ich bin so froh, dass du diesen groben grauen Kittel nicht mehr trägst.“
    „Man sagt, Kometen bringen Unglück!“
    „Das sagen vielleicht die, die immer voller Schuld auf ein Unglück warten. Ich finde Schweifsterne wunderschön.“
    Sie setzten sich auf die flache Mauer, welche die Viehtränke neben dem Brunnen umschloss. „Glaubst du, die Sterne sind überall auf der Welt dieselben?“, fragte Radegunde.
    „Ich bin sicher.“
    „Dann sieht man in Konstantinopel auch den Großen Wagen?“
    „Und den Kleinen Wagen, den Schwan und die Kassiopeia.“
    Sie legte den Kopf in den Nacken und seufzte.
    „Was bedrückt dich, Mutter?“
    „Ich weiß nicht, ist es Heimweh oder Sehnsucht? Ich wäre gern an Gisos Seite nach Konstantinopel gezogen.“
    „Warum gerade dorthin? Liegt deine Heimat nicht viel näher?“
    Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie: „Habe ich dir je von Amalafrid erzählt?“
    „Nein.“
    Und sie berichtete ihm von ihren Kindertagen, von der Liebe zu ihrem Vetter und von der Unstrut. Von Kiara und Besa, der kleinen Frau mit dem großen Herzen, und von dem Untergang ihres Volkes, von ihrer stillen Hoffnung auf Rettung und ihrer unglücklichen Ehe.
    Venantius lauschte der Geschichte der Frau, die er verehrte und wie eine Mutter liebte und deren tragisches Schicksal sein Herz zum Zittern brachte. Der Große Wagen wanderte auf seiner nächtlichen Route in Richtung Horizont, und er begriff, dass er diese Geschichte nicht in seinem Herzen einschließen durfte, sondern dass er sie für die Nachwelt erhalten musste.
    „Hast du die Briefe von Paulus an die Korinther gelesen?“, fragte er mit heiserer Stimme, als sie schließlich schwieg.
    „Ja?“
    „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
    Sie drückte seine Hand, stand auf und ging hinüber zur Kapelle.
    Die Nonnen sangen die ersten Psalmen in der frühen Dämmerung, als Venantius im Scriptorium nach der Feder griff.
    Der schwüle Augusttag brütete ein Gewitter aus und am späten Nachmittag zogen Wolken auf, so schwarz wie Holzkohle. Ein heißer Wind trieb den Staub der Straßen über die Klostermauern und schob ein erstes Donnergrollen vor sich her. Die Nonnen, die auf dem Hof im Schatten eines Lindenbaumes gesponnen hatten, rafften hastig Wolle und Spindeln zusammen. Gerade noch rechtzeitig verschwand der letzte Kuttenzipfel im Refektorium, da zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Das Gewitter zog den Fluss entlang und umkreiste Poitiers wie ein Fuchs den Hühnerstall. Ängstlich hockten die Nonnen im Saal, schlugen Kreuze und murmelten Gebete. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“
    „Schwestern“, versuchte Radegunde sie zu ermuntern, „vertraut auf Gott! Er hält seine Hand über uns!“
    Vor dem Fenster wurde es schlagartig hell, gleich darauf ließ ein Donnerschlag die Luft und die Nonnen erzittern. „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich …“
    Ein weiterer Blitz, ein Donnerschlag, ein Aufschrei. Die Tür flog auf, Basina wirbelte herein. ,Dieses Mädchen hat tatsächlich vor nichts Angst‘, dachte Radegunde halb bewundernd, ,sie muss bei diesem Wetter von der Pforte bis hierher gerannt sein.‘
    „Ein Bote!“, schrie Basina und versuchte, das Gewitter zu übertönen. „Sie kehren zurück! Zurück aus Konstantinopel!“ Ihre weiteren Worte kämpften vergeblich gegen den Donner und das Geschrei der Nonnen an.
    Sie seien den Fluss
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