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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom
Autoren: Die Unperfekten
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Lissabon gesetzt hatte, er
sollte aus erster Hand vom Sturz des Regimes berichten, obwohl er kein Wort
Portugiesisch konnte. Und hier, der Reporter, mit dem er bei einer
Pressekonferenz von Giscard d'Estaing zusammengehockt hatte, und beide hatten
sie einen solchen Lachkoller gekriegt, dass sie rausgeflogen waren und sich
einen Rüffel vom Pressesprecher eingefangen hatten. Wie viele von den uralten
Nummern wohl noch stimmten?
    Die Wohnzimmervorhänge sind
nach und nach heller geworden vom Tageslicht. Er zieht sie auf. Die Sonne ist
nicht zu sehen, auch keine Wolken, nur Häuser. Wenigstens weiß Eileen nichts
von seiner Finanzklemme. Wenn sie davon Wind bekäme, würde sie sofort Hilfe
anbieten. Und was bliebe ihm dann noch?
    Er öffnet das Fenster, atmet
tief durch, drückt die Knie gegen das Geländer. Die Pracht von Paris - das Hohe
und Weite, die Härte und die Sanftheit, diese vollkommene Symmetrie, dieser dem
Stein, den gestutzten Rasenflächen, den widerspenstigen Rosenbüschen aufgezwungene
menschliche Wille - dieses prächtige Paris residiert anderswo. Lloyds Paris ist
kleiner, in ihm sind nur er, dieses Fenster und knarrende Dielen in der
Wohnung gegenüber.
     
    Gegen neun marschiert er durch
den Jardin du Luxembourg. Vor dem Palais de Justice bleibt er stehen. Fahnen
noch nicht oben? Fauler Sack. Er zwingt sich weiter, über die Seine, die Rue Montorgueil
hoch, an den Grands Boulevards vorbei.
    Charlottes Laden ist in der
Rue Rochechouart, zum Glück nicht allzu hoch auf dem Hügel. Das Geschäft ist
noch zu, deshalb schlendert Lloyd zu einem Café, kehrt an der Tür aber um - für
bloßen Luxus hat er kein Geld. Er starrt in Charlottes Schaufenster: Hüte,
entworfen von seiner Tochter und handgefertigt von einem Team aus lauter jungen
Frauen, die wie Dienstmädchen im achtzehnten Jahrhundert ausstaffiert sind, mit
hochgebundenen Leinenschürzen und Hauben.
    Charlotte erscheint erst nach
der Öffnungszeit. »Oui?«, sagt sie, als sie ihn sieht - sie spricht nur Französisch mit ihm.
    »Ich bestaune gerade dein
Schaufenster«, sagt er. »Wunderschön gestaltet.«
    Sie schließt den Laden auf und
geht hinein. »Wieso trägst du denn Schlips? Musst du irgendwo hin?«
    »Ja, hierhin - ich wollte dich
besuchen.« Er reicht ihr die Pralinenschachtel. »Sind Calissons.«
    »Ich esse so was nicht.«
    »Ich denke, die magst du so gern.«
    »Ich nicht. Brigitte.« Ihre
Mutter, die zweite von Lloyds Exfrauen.
    »Könntest du sie ihr dann
weitergeben?«
    »Die nimmt nichts von dir.«
    »Du bist so böse mit mir,
Charlie.«
    Sie stapft in eine Ecke und
fängt an, wie besessen aufzuräumen. Eine Kundin kommt in den Laden, und Charlotte
setzt ein Lächeln auf. Lloyd zieht sich in eine Ecke zurück. Die Kundin geht
wieder, und sofort widmet sich Charlotte wieder ihrem Putzfaustkampf.
    »Habe ich was falsch
gemacht?«, fragt Lloyd.
    »Mein Gott - bist du
egozentrisch.«
    Er späht in die hinteren
Räume.
    »Sie sind noch nicht da«,
blafft sie ihn an.
    »Wer?«
    »Die Mädchen.«
    »Deine Arbeiterinnen? Warum
erzählst du mir das?«
    »Bist zu früh gekommen.
Schlechtes Timing.« Charlotte ist der Ansicht, dass Lloyd jeder Frau
nachgestellt hat, mit der sie ihn je bekannt gemacht hat, angefangen bei ihrer
besten Freundin aus dem Gymnasium. Nathalie war einmal nach Antibes in die
Ferien mitgekommen und hatte in den Wellen ihr Bikinioberteil eingebüßt, und
Charlotte hatte Lloyd erwischt, wie er sie beobachtete. Zum Glück hatte sie nie
erfahren, dass die Sache zwischen ihrem Vater und Nathalie später noch sehr
viel weiter gegangen war.
    Aber das ist alles vorbei.
Endgültig zu Ende. Und so sinnlos im Nachhinein, so viel verlor'ne Liebesmüh'.
Die Libido - sie war die Tyrannin seines Lebens gewesen, sie hatte ihn vor ewigen
Jahren aus dem komfortablen Amerika ins sündige Europa gelockt, mit Abenteuern
und Eroberungen, sie hatte ihm vier Ehen eingebrockt, hundertmal so viele
Beine gestellt, ihn abgelenkt und erniedrigt und beinahe ruiniert. Mit all dem
ist jetzt gnädigerweise Schluss, sein Begehren ist in den letzten Jahren
einfach verkümmert, auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwunden, wie es
aufgetaucht war. Lloyd ist zum ersten Mal seit seinem elften Lebensjahr Zeuge
des Weltgeschehens ohne jedes Eigeninteresse. Und er fühlt sich ziemlich
verloren.
    »Magst du die Pralinen
wirklich nicht?«
    »Ich hab sie nicht bestellt.«
    »Nein, hast du nicht.« Lloyd lächelt traurig. »Gibt's
denn trotzdem etwas, was ich
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