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Racheopfer

Racheopfer

Titel: Racheopfer
Autoren: Ethan Cross
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hören.
    »Hast du dich je gefragt, wo du in fünf Jahren bist? Denk mal darüber nach. Wir kennen uns noch keine zwei Jahre, aber sieh dir an, wie unser Leben sich seitdem verändert hat. Nur wenn ich zurückblicke, scheint es, als hätte sich alles ganz von allein ergeben. Als hätte sich alles aneinandergereiht, jede Kleinigkeit, und zu einem bestimmten Ergebnis geführt. Aber wir erkennen es erst, wenn wir zurückblicken. Während es geschieht, sagen einem diese Kleinigkeiten überhaupt nichts.«
    »Hinterher ist man immer klüger.«
    »Genau.«
    »Wenn du zurückblickst, siehst du dann Zustimmung oder Bedauern?«
    »Das sage ich dir in fünf Jahren.«
    David zog sie fester an sich und beugte sich zu ihrem Ohr vor. »Meine Scheidung ist bald durch. Dann brauchen wir nicht mehr herumzuschleichen und uns zu verstecken.«
    Jennifer löste sich von ihm und ging zu dem Sofa, auf das sie ihre Kleidung geworfen hatte. Ihr Büro war groß und bequem. Sie hatte die Einrichtung selbst ausgesucht: einen antiken Schreibtisch aus dunklem Kirschbaum mit passenden Aktenschränken, schwarze Ledersofas. Der Raum roch nach Jasmin - ein Duft, den sie seit ihrer Kindheit liebte. Sie verbrachte den Großteil ihrer Zeit hier und schlief oft auf der Ausziehcouch, zumal ihre Wohnung fast eine Autostunde entfernt lag.
    »Mit deiner Scheidung hat es nichts zu tun«, sagte sie nun.
    »Womit dann? Es geht um ihn, nicht wahr? Um Ackerman. Seit er hier ist, bist du irgendwie … geistesabwesend. Ich weiß, dass du dich deinen Ängsten stellen willst, um sie zu überwinden, aber ich halte es noch immer für keine gute Idee, dass du diesem Irren dabei räumlich so nahe bist.«
    »Bist du jetzt der Psychiater?«, erwiderte sie gereizt.
    David sagte irgendetwas, aber sie hörte nicht mehr hin. Sie wünschte, sie wäre ihm gegenüber nicht so offen gewesen, was ihre Vergangenheit betraf.
    Ihre Gedanken trieben davon, und verschwommen kehrten die Erinnerungen wieder …
    Sie sitzt mit ihrer Familie am Küchentisch. Sie reichen einander die Hände zum Gebet. Der Geruch von warmem Gebäck und Preiselbeersoße erfüllt das Zimmer. Ihr Vater, der mit seiner neuen Uhr angibt. Das Lachen ihrer Mutter. Ihr Bruder, der ihre kleine Schwester unter dem Tisch gegen das Bein tritt. Das Schrillen der Türklingel. Ihre Mutter, die ihr sagt, sie solle aufmachen. Sie gehorcht. Ein Junge, ungefähr im gleichen Alter wie sie, steht im Regen vor ihr. Ein Junge mit kalten grauen Augen.
    »Jennifer?« Davids Stimme.
    Sie fuhr zusammen.
    »Alles ist in Ordnung«, sagte er. »Ich bin bei dir.«
    Sie spürte wieder seine Arme und begriff, dass sie eine Panikattacke gehabt haben musste, eine Folge der PTBS, der posttraumatischen Belastungsstörung. Sie schob ihn weg und stand auf. »Du brauchst mich nicht zu hätscheln. Mir geht es gut.«
    Aber ihr ging es nicht gut. Es würde ihr niemals gut gehen, solange es nicht vorbei war. Solange sie zurückdenken konnte, verfolgte sie nur ein Ziel, und nun war es bald so weit.
    Jennifer hatte jenen Abend als Einzige überlebt. Nach dem Mord an ihrer Familie hatte ihr Großonkel sie bei sich aufgenommen - nicht gerade ein Mann, der sich durch Herzenswärme auszeichnete. Jennifer hatte ihren Namen geändert und ihre Akte sperren lassen. Sie hatte alles Mögliche getan, um dem Makel ihrer Vergangenheit zu entkommen. Außer ihr selbst kannte nur ein einziger Mensch ihre wahre Geschichte, und das war David.
    Sie bedauerte zutiefst, David diese Last aufgebürdet zu haben.
    Sie hatten sich bei einer Selbsthilfegruppe für Menschen getroffen, die an PTBS litten, und rasch angefreundet. David hatte mit seinen Erlebnissen als Soldat im Irak zu kämpfen, und Jennifer hatte versucht, ihre Panikattacken und die nächtlichen Angstzustände in den Griff zu kriegen. Als an der Klinik die Stelle des Sicherheitschefs frei wurde, hatte Jennifer sich mit Dr. Kendrick in Verbindung gesetzt und ihm David empfohlen, und er hatte den Job bekommen.
    »Hör zu, Jennifer«, sagte er nun, »ich verstehe ja, was du durchmachst. Ich bin vielleicht der Einzige hier, der es versteht. Damals im Irak habe ich gesehen, wie meine Kameraden vor meinen Augen gestorben sind, und konnte es nicht verhindern. Ich …«
    Jennifer drehte sich zu ihm um und drückte ihm einen Finger in die festen Muskeln seiner Brust. Sie versuchte, leise zu reden, doch als sie sprach, war ihre Stimme laut und flehend. »Komm mir nicht damit, dass du mich verstehst. Dass Soldaten im Kampf
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