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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition)
Autoren: Marie Anhofer
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anderes.
    Die Sozialarbeiterin schickte mich zurück nach Hause. Das war jener Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal daran dachte, meine Pflegeeltern zu töten. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Wenn sie mich nicht töteten, dann musste ich es tun. In meinen Gedanken zog ich dabei alle möglichen Arten in Betracht. Ich musste aus dieser Hölle irgendwie entkommen. Hilfe konnte ich mir von niemanden erwarten und nicht einmal von dieser Frau, die die Macht hatte, allem ein Ende zu setzen. In den darauf folgenden Monaten beschäftigte ich mich nur noch damit. In meiner schier grenzenlosen Verzweiflung mixte ich ihnen einen Giftcocktail. An einem anderen Tag stellte ich mir wieder vor, mir eine Schusswaffe zu besorgen. Aus heutiger Sicht bin ich natürlich froh, dass ich damals nicht wusste, wie ich an Derartiges gelangen könnte, denn damit wäre ich zwar einem Gefängnis entkommen, das nächste wäre mir aber sicher gewesen.

    Wir alle sind Weltmeister im Verdrängen und Wegsehen, weil wir der Meinung sind, dass das, was hinter fremden Türen passiert, uns nichts angeht.
    Wenige Jahre, nachdem ich von Zuhause gegangen war, habe ich Frau Stiger in der Innenstadt getroffen. Frau Stiger wohnte mit ihrem Mann und den Kindern unmittelbar im Haus daneben. Sie schüttelte mir freundlich die Hand und fragte mich nach meinem Befinden. Ich antwortete ihr, dass es mir soweit gut ginge, woraufhin sie sichtlich erleichtert meinte: »Es freut mich zu hören, dass es dir jetzt gut geht. Ich muss dir sagen und ich hoffe, dass du mir danach nicht böse bist«, fügte sie hinzu, »dass ich immer wieder deine Schreie gehört habe und mir auch immer wieder mal vorgenommen habe, deine Pflegeeltern darauf anzusprechen. Ich habe es aber nie getan, weil ich mich in diese Angelegenheiten nicht einmischen wollte und ich dachte mir außerdem, da du ja ein Pflegekind seist, würde ohnehin die Behörde ein Auge darauf werfen.«
    Ich war stets davon überzeugt, dass viele von meinem Martyrium wussten, aber jetzt, nach Frau Stigers Geständnis hatte ich endlich auch die Bestätigung dafür. Ich bekam endlich die Bestätigung, dass sich alle, allen voran die Nachbarschaft, in Schweigen hüllte.

    Waren meine Lehrer tatsächlich so blind? Das andauernde Fernbleiben von der Schule. Massenhaft Fehlstunden, Jahr für Jahr. Die häufigen Entschuldigungen meiner Pflegemutter, dass ich am Turnunterricht aufgrund einer Verletzung wieder einmal nicht teilnehmen könnte, all das musste meiner Ansicht nach doch auffallen.

    Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass der Hausarzt meiner Pflegefamilie Bescheid wusste. Es sind harte Anschuldigungen, aber würde ich nur einen Funken Zweifel daran haben, würde ich es nicht behaupten. Immer wieder kam es vor, dass sich nach Prügel blutige Striemen derartig entzündeten, dass meine Pflegeeltern gezwungen waren, den Hausarzt zu rufen. Ehe sie ihn jedoch baten, vorbeizukommen, behandelte mich meine Pflegemutter mit diversen Salben und verabreichte mir fiebersenkende Medikamente. Half all das nichts, musste eben der Arzt her. Der Hausarzt wusste nichts von meinem Zimmer im Keller und deshalb wurde ich für die Zeit des Arztbesuches immer in Sybilles Zimmer verlegt. Und natürlich bekam ich für die Zeit seines Besuches Rede-und Antwortverbot. Als er eines Tages kam und mich zu untersuchen und dabei die entzündeten Stellen an meinem Körper entdeckte, sah ich, wie er meine Pflegemutter von der Seite ansah. Ich erinnere mich, dass sie ihm daraufhin erklärte, dass ich vor ein paar Tagen beim Baumklettern vom Baum gefallen sei. Die Äste des Baumes hätten zu diesen Verletzungen geführt, wie sie meinte. Nach der Untersuchung verließ er gemeinsam mit meiner Pflegemutter das Zimmer, und obwohl sie die Tür nach dem Verlassen hinter ihr schloss, konnte ich hören, wie zwischen ihm und meiner Pflegemutter im Flur eine heftige, lautstarke Diskussion stattfand. Und das war nicht das einzige Mal, dass es nach der Begutachtung meines Körpers zwischen den beiden zu Gesprächen dieser Art kam.
    Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in späteren Jahren an der Praxis des Hausarztes Halt machte. Anstatt weiterzugehen, blieb ich dort stehen und starrte minutenlang nur auf sein Ordinationsschild. Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Hoffnung, Ratlosigkeit, Hass, Verachtung - all diese Gefühle schwappten innerhalb weniger Sekunden in mir hoch. So viele Jahre fragte ich mich, ob es Sinn mache, ihn zur Rede zu stellen. Was
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