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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition)
Autoren: Marie Anhofer
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überlegte noch kurz, ob ich sie nun fragen sollte, ob ich sie umarmen dürfte. Das hätte ich mir sparen können, denn ich kam erst gar nicht in den dritten Stock. Eine dunkelhaarige Frau, adrett gekleidet, kam mir auf der Treppe zwischen dem zweiten und dritten Stock entgegen und fragte mich, ob ich bei ihr geläutet hätte. Ich war so beschäftigt sie von oben bis unten zu betrachten, dass ich meine Antwort erst verzögert gab. Ich stellte mich mit meinem vollständigen Namen vor und teilte ihr freudig mit, dass ihre Tochter vor ihr stehen würde. Weiter kam ich mit meiner Rede nicht.
    »Ich wünsche keinen Kontakt zu meinen Kindern. Wende dich an deinen Vater, wenn du etwas wissen möchtest.«
    Mein Herz schrie förmlich nach einer Umarmung, stattdessen bekam ich eine Abfuhr. Ohne weiteren Kommentar drehte sie sich um und ging wieder nach oben. Ich unterdrückte meine Tränen so lange, bis ich die Tür hinter ihr ins Schloss fallen hörte. Ich setzte mich auf eine der Stufen und brach in einem nicht mehr enden wollenden Weinkrampf aus. Konnte das alles wahr sein? Wurde ich tatsächlich in eine Welt geboren, in der ich von niemanden gewollt war? Hatten meine Pflegeeltern mit ihren Aussagen doch recht, dass ich es nicht verdiente, geliebt zu werden? Es schien fast so, als würden sie recht behalten, dass ich es nicht anders verdiente, als von jedem abgeschoben, vergessen, ausgenutzt und verlassen zu werden. Ich saß im Treppenhaus, starrte ins Leere und versank in Selbstmitleid.
    Wie sehr mich das alles verletzte, vermag ich mit Worten nicht einmal annähernd wiederzugeben. Wenn ich heute auf meine Eltern angesprochen werde, gebe ich als Antwort, dass ich sie nicht kenne. Es ist erträglicher, als sagen zu müssen, dass ich auch im Leben meiner leiblichen Eltern nie gewollt war.

    9.April 2004 – zwei Jahre später.

    Ich zitterte am ganzen Körper. Ich hatte Angst, völlig überzuschnappen und endgültig die Kontrolle über alles zu verlieren. Ich setzte mich auf Patricks Hüften, und während meine Tränen auf seinen nackten, erkalteten Oberkörper tropften, bettelte und schrie ich ihn fortlaufend an, dass er doch bitte aufwachen solle. Ich bettelte und schrie ihn an, dass es nicht fair von ihm wäre, mich allein zurückzulassen. Ich bettelte und schrie ihn an, dass die Kinder und ich ihn doch brauchen würden und dass mein Leben ohne ihn sinnlos wäre. Ich bettelte und schrie ihn an, dass er mir das nicht antun dürfte und dass er nicht gehen dürfte, denn ich hätte ihm noch so viel zu sagen. Ich weinte und schrie mir die Seele aus dem Leib, doch all das machte ihn nicht wieder lebendig. Patrick, ein Mann, der Jahre an meiner Seite war und mit dem ich viele schöne Momente erleben durfte. Er war ein Mann, der mich lehrte, dass im Leben einzig ein Brief aufgegeben wird, aber nie sich selbst. Er war einer der ersten Menschen in meinem Leben, der mir zeigte, dass Menschen auch Wesen sein können, denen man vertrauen darf. Dieser Mann ließ mich nun zurück. Sein Herz hatte ohne jede Vorwarnung während des Schlafs einfach aufgehört zu schlagen.

Das Leben danach

    Viele Wochen lag ich aufgrund meiner Operation an den Nieren im Krankenhaus.
    Folglich konnte ich es kaum noch erwarten, endlich wieder nach Hause entlassen zu werden. Zu Hause machte ich schnell Fortschritte. Bereits nach mehreren Wochen konnte ich wieder ein einigermaßen normales Leben führen.
    Meine Vergangenheit sollte mich aber bald wieder gnadenlos einholen. Es war jener Tag, an dem ich am Schaufenster stand und mir die ausgestellten Kleider ansah. Die Frau, die so dicht hinter mir stand, dass ich ihren Atem spüren konnte, löste eine Lawine in mir aus, bei der ich noch nicht ahnen konnte, dass sie mich Jahre unter sich begraben würde. Aus Angst, dass mich diese Frau von hinten angreifen und mein Leben in Gefahr bringen könnte, rannte ich so schnell ich nur konnte. Ich rannte um mein Leben.
    In Abständen von wenigen Tagen taten sich immer mehr Ängste in mir auf. Von einem Tag auf den nächsten war es mir nicht mehr möglich, in eine Badewanne zu steigen. Ich konnte keinen Keller mehr betreten und ich war nicht mehr in der Lage, die Wohnung zu verlassen. Ich hatte vor alles und jedem Angst. Das Ganze spitzte sich so weit zu, dass ich irgendwann nicht einmal mehr imstande war, die Wohnungstür zu öffnen, um Werbematerial vom Boden aufzuheben. Ich war begraben unter einer riesigen Lawine von Angst und Panik. Tagein, tagaus und mir war, als
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