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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Schritte donnerten, Metall klirrte und jemand schluchzte. Saffa.
    »Wohnt hier eine Mion?« Die tiefe Stimme vibrierte in der Luft wie das Knurren eines Löwen.
    Mion lehnte sich gegen die Wand. Alles drehte sich. Eine Flucht war unmöglich, unmöglich, es gab keinen Ausweg.
    »Ja«, murmelte ihr Vater verwirrt. »Das ist meine Tochter. Sie hat doch nichts -«
    Ihre Familie stieß entsetzte Schreie aus. Im nächsten Augenblick war ein Löwe auf die Stiege gesprungen, die Sprossen zersplitterten wie Streichhölzer unter seinem Gewicht.
    Langsam trat er durch den Vorhang und blieb direkt über ihr stehen. Seine Mähne berührte die Decke. Kalt und gelb starrten die Augen auf sie herab, Augen, fast so groß wie ihre Handflächen. Als er sie um die Seite packte und hochhob, verlor Mion kurzfristig die Besinnung. Alles wurde von samtiger Finsternis umwölkt, dann spürte sie einen Luftzug, als der Löwe mit ihr in die Stube hinabsprang. Das riesige Maul ließ von ihr ab und sie prallte hart auf den Boden. Der Schmerz holte sie ins Bewusstsein zurück.
    »Ist sie das?«, fragte die dunkle Stimme des Sphinx. Benommen blickte Mion auf und sah alles durch einen Tränenschleier. Links standen ihre Eltern, seltsam klein und hilflos in ihrem eigenen Haus. Mirim hing wie eine Stoffpuppe in den Armen seiner Mutter und starrte Mion an, als wäre sie bereits tot. Sieben oder acht Sphinxe umzingelten sie.
    Und direkt vor ihr stand Saffa. Seine Augen waren rot und geschwollen vom Weinen und vielleicht noch etwas anderem. Auf seiner Stirn waren Abdrücke, als hätte ihn eine Pranke getroffen.
    »Ist sie das?«, wiederholte der Sphinx hinter ihr dröhnend.
    »Ja«, schluchzte Saffa.
    Schon wurde sie hochgezerrt. Die Hände der Sphinxe hielten sie wie Schraubstöcke und schleiften sie aus der Hütte.
    Die Nacht war angebrochen. Als sie Saffa in den Schnee schleuderten, verschmolz seine Gestalt mit den Schatten.
    »Wo bringt ihr sie hin?«, rief Mions Vater. »Was hat sie denn getan?«
    »Deine Tochter ist eine Verbrecherin.« Das Fauchen streifte Mion heiß; es klang tief wie die Dunkelheit selbst.
    Endlich fand sie ihre Stimme wieder. Sie drehte den Kopf und streckte die Hände aus. »Papa!«
    Er wagte nicht zurückzurufen. Dann wurde sie fortgezerrt. Finger, vielleicht auch Fangzähne, bohrten sich schmerzhaft in ihren Arm. Ein letztes Mal konnte sie zu ihrer Familie zurückblicken. Ihr Vater stolperte zwei Schritte hinter den Sphinxen her, ehe er das Gleichgewicht verlor und in den Schnee sank.

Lyrian
    E in Junge schritt die Große Brücke von der Mauer zum Palast entlang und zwölf Löwen folgten ihm auf beiden Seiten. Weit unter ihnen, so weit, dass die Bäume klein wie Nadeln aussahen, erstreckten sich die Gärten der Drachen. Da waren Hügel, auf denen im Sommer blutroter Klatschmohn blühte, und Tannenwälder, in denen versteckte Weiher schlummerten und Quellen sprudelten; es gab weitläufige Heckenlabyrinthe und Obstwiesen mit allen erdenklichen Früchten, verwunschene Paradiese mit efeuumrankten Statuen und Brunnen voller Zierfische und verlassenen Pagoden. Doch jetzt lag der Schnee darüber wie ein Leichentuch. Von der Großen Brücke aus, den Wolken näher als der Erde, waren die Gärten nicht mehr als eine weiße Wüste, ein Spiegelbild des Himmels.
    Der Junge blickte nicht hinab und hätte es auch nicht getan, wenn es mehr zu sehen gegeben hätte. Seine goldenen Augen waren geradeaus gerichtet, zum Palast hin, der selbst hier oben noch aufragte wie ein Gebirge aus weißem Stein. Über dem Torbogen am Ende der Brücke war eine Inschrift in die Mauern gehauen, jeder Buchstabe zwei Meter lang:
    DRACHEN, BESCHÜTZT DEN MENSCHEN VOR DER WELT!
    DRACHEN, BESCHÜTZT DIE WELT VOR DEM MENSCHEN!
     
    Dieser Befehl sprach mit der erdrückenden Gewaltigkeit des Palasts, so als stellten die Türme selbst die Forderung an jene, die sie betreten wollten. Der Junge aber schien die Inschrift nicht zu sehen.
    Der Wind strich ihm seine hellbraunen Haare in die Stirn. Schneekörner stoben ihm entgegen und setzten sich in den Mähnen der Löwen fest, die jeden seiner Schritte bewachten. Weder der Wind noch die Kälte noch der Anblick des Palasts konnte seinem Gesicht eine Regung abgewinnen.
     
    Diener huschten um ihn her, Höflinge verneigten sich, Kleiderrauschen, trippelnde Füße. Niemand sah ihm ins Gesicht und er sah niemanden. Die hohen Türflügel seines Schlafgemachs wurden ihm von Dienern geöffnet, die fast auf dem Boden kauerten.
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