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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Da verwandelte sich der Drache in einen riesigen Wolf mit einem Schlangenkopf und den Hörnern eines Stiers und erwiderte: ›Wie wagst du es, dich mit mir zu vergleichen! Sieh mich an, ich bin fünfmal größer als du, ich kann fliegen und schwimmen und rennen wie jedes Tier, das mir gefällt.‹ Da sagte der Junge: ›Ja, das stimmt. Aber du hast keine Gefühle. Wer keine Gefühle hat, mag stark und mächtig sein. Aber er weiß nicht, was Schönheit ist.‹ ›Was?‹, schrie da der Drache. ›Ich kann wunderschön sein, sieh mich an!‹ Und er verwandelte sich in einen prächtigen Hirsch mit goldenem Geweih und den dunklen Flügeln eines Raben. Danach wurde er ein Pferd, das weiße Taubenflügel hatte und die Schuppen eines silbernen Fischs. Immer wieder verwandelte er sich, eine Gestalt fantastischer als die andere, und der Junge sah beeindruckt zu, bis dem Drachen nichts mehr einfiel. Dann sagte der Junge: ›Das war alles ganz prächtig. Aber du siehst nie und nimmer schöner aus als meine allerliebste Schwester mit den kupferbraunen Haaren.‹«
    Mirim sah mit leuchtenden Augen zu ihr auf. »So wie du?«
    Sie grinste. »Natürlich, so wie ich! Jedenfalls knurrte der Drache da: ›Langsam habe ich genug. Ich werde dir zeigen, dass du falschliegst und ich tausendmal schöner bin als deine Menschenschwester. Das sollst du noch einsehen, bevor ich dich fresse.‹ Also nahm der Drache endlich seine wahre Gestalt an und wurde zu einer sehr hübschen Frau. Darauf hatte der schlaue Junge nur gewartet. Denn wie alle wissen, können Drachen nur getötet werden, wenn sie ihre wahre, menschengleiche Erscheinung annehmen. Der Junge packte Pfeil und Bogen und erschoss den Drachen.« Ohne es zu merken, hielt sie den Atem an.
    Mirim blickte erwartungsvoll auf. »Und er war der Einzige, der das je gemacht hat. Ende.«
    »Ja. Ja, und zum Glück war er der Einzige, denn die Drachen sind unsere Beschützer, nicht wahr? Wir sind froh, dass es sie gibt.«
    »Hmhm«, machte Mirim und klang dabei so skeptisch, dass sie lächelte und ihn fest an sich drückte.
     
    Die Sphinxe blieben in den Ruinen. Vor Nachtanbruch hörte Mion einen nahen Schreckensschrei, und als sie ans Fenster hastete, jagten fünf große Löwen am Ende der Gasse vorbei. Ihre Eingeweide fühlten sich wie verknotet an.
    Am nächsten Morgen war eine Ausgangssperre über das gesamte Viertel verhängt worden. Beunruhigt saß die Familie am Ofen, nur Mion hatte sich ins Bett gelegt. Fiebrig und zitternd vor Furcht, war es ihr nicht schwergefallen, Kranksein vorzuheucheln.
    »Was da wohl los ist?«, hörte sie ihre Mutter unten murmeln.
    Ihr Vater stellte seinen Becher auf den Tisch. »Vielleicht haben sich Rebellen aus Albathuris eingeschlichen. Wär nicht das erste Mal.«
    »Aber nur deswegen eine Ausgangssperre? Wissen die Drachen denn nicht, dass wir unsere Arbeit brauchen...«
    »Vielleicht sind es besonders gefährliche Rebellen.«
    »Aber dann würden sie doch nicht in den Ruinen bleiben, dann wären sie doch schon oben in Wynter?«
    »Die Drachen wissen, was sie tun.«
    »Natürlich«, murmelte ihre Mutter. Mion wusste, dass auch sie Angst hatten. Angst davor, was dort draußen vor sich ging, und Angst vor dem, was drinnen gesagt wurde.
    Sie schloss die Augen. Wenn sie nur wüssten!
     
    Am Abend kamen sie.
    Die Wolken ließen nur einen metallischen Schimmer durch, kaum stark genug, um der Dunkelheit zu trotzen. Kerzenschein drang bald aus den Hütten und schwamm wie Eidotter in der grauen Dämmerung.
    Mion hörte die Schritte im Schnee, bevor sie die Tür erreichten. Vorsichtig spähte sie durch das Wandloch und stieß die Luft aus: Im schwachen Licht, das durchs Fenster nach draußen fiel, schmolzen die Löwenkörper fort und verwandelten sich in Männer. Gelbe Umhänge fielen ihnen über die gepanzerten Schultern. In ihrer Mitte stolperte ein Junge mit struppigen schwarzen Zöpfen. Der Sphinx, der ihn zuvor mit dem Maul gepackt hatte, hielt ihn nun mit der Hand am Wollschal fest.
    »Nein...!« Tränen schossen ihr in die Augen, als sie Saffa erkannte. Schon hämmerte jemand an die Tür, drei kräftige Hiebe gegen das Holz, die Mion direkt im Magen zu treffen schienen.
    Unten öffnete ihr Vater. Sie wollte ihn warnen, wollte ihn aufhalten - aber sie brachte keinen Ton heraus.
    Die Tür wurde aufgestoßen. Ein eisiger Windhauch fegte durch die Hütte und ließ den Vorhang an Mions Bett flattern. Plötzlich war die Stube von Lärm erfüllt. Mirim schrie auf,
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