Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
Daneben saß ein geflügelter Panther, größer als jeder Mann, der gewagt hätte, sich aufzurichten.
    Der Panther verwandelte sich in seine Mutter.
    Ihr herzförmiges Gesicht saß in dem Meer aus schwarzer Seide und Spitze wie das helle Innere einer geheimnisvollen Blüte. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob der Panther ihn ansah oder die Frau; wortlos schritt er an ihr vorbei in sein Gemach.
    Diener entkleideten ihn, die für ihn unsichtbar waren. Auch er war für sie unsichtbar. Sie sahen nur einen Umhang, ein besticktes Wams, ein Hemd, Beinlinge, Schuhe... Die Bettdecken wurden zurückgeschlagen und die Kohlepfannen zum Wärmen herausgezogen. Er ließ sich in die Kissen sinken. Mit leisem Rauschen schlossen sich die Vorhänge um ihn. Als nur noch der Vorhang am Bettende offen war, sodass er durch die Fenster den Winterhimmel sehen konnte, sagte er mit leiser Stimme: »Ich wurde umgebracht.«
     
    Ein Priester und ein Leibarzt kamen in Begleitung ihrer Diener und umringten sein Bett. Auch die Kaiserin war da und warf ihrem Sohn Seitenblicke zu, wenn sie nicht gerade aus dem Fenster sah.
    Als der Heiler seine Untersuchung beendet hatte und bestätigte, dass der Prinz wohlauf war, trat der Priester vor. Während seine Hände Zeichen in die Luft schrieben, murmelte er unverständliche Zauberformeln. Nach den Beschwörungen drehte sich die Kaiserin um.
    »Geht jetzt, alle.«
    Rückwärts entfernten sich die Untergebenen und schlossen die Türen. Lyrian war mit seiner Mutter alleine.
    Fast eine Minute sahen sie sich schweigend an. Lyrian fragte sich, ob die Kaiserin überhaupt noch atmete, so reglos stand sie da. Schließlich wandte sie sich wieder dem Fenster zu und beobachtete die Raben, die durch den Himmel jagten.
    »Die Raben von Wynter!«, sagte sie feierlich, und obwohl der hohe Kragen ihr Gesicht vor Lyrian verbarg, wusste er, dass sie lächelte. »Vor Hunderten von Jahren wählte der Kaiser von Wynter sich den Raben als Luftwesen aus. Aber die Vögel waren schlauer als alle anderen Tiere. Sie fanden einen Weg, aus ihren Gehegen auszubrechen, und seitdem bewohnen sie den Himmel um den Palast. Nur ein paar unter ihnen sind unsere Spione.«
    Lyrian schloss schaudernd die Augen. Bilder der letzten Nacht durchzuckten ihn... aber er drängte sie mühsam zurück. Nicht jetzt.
    »Die Geschichte der Raben hast du früher besonders gemocht. Fast hättest du den Raben statt der Schwalbe als dein erstes Luftwesen gewählt.« Die Kaiserin drehte sich zu ihm um und kam ans Bett. Ihr Kleid glitt über den Boden wie dunkles Quecksilber. Ihr würdevolles Gesicht war so versteinert, dass Lyrian sich fragte, wie die Falte zwischen ihren Augenbrauen entstanden sein konnte. Oder die zarten Lachfalten um den Mund. Vielleicht während sie schlief, in ihren Träumen. Aber allein die Vorstellung, dass seine Mutter Träume hatte, schien ihm abwegig.
    »Wer hat dich umgebracht, Lyrian? Rebellen aus Albathuris?«
    Er drehte den Kopf in die andere Richtung. »Ich... wurde von einem Pfeil getroffen. Dann war ein Mädchen über mir. Ihr Gesicht...« Er schloss die Augen und beschwor die Erinnerung an sie herauf. Dass sie schon fast verblasst war, machte sie nur noch engelhafter. »Sie war in Lumpen gehüllt, ihr Gesicht war schmutzig und schön.«
    »Hat sie dich umgebracht?«
    Lyrian öffnete die Augen. »Nein. Nein, sie wollte mich retten. Zwei Jungen waren es. Der eine hatte schwarze Zöpfe und Sommersprossen. Der andere war dünn und hatte ein langes Gesicht.«
    Die Kaiserin wartete ab, ob er noch mehr sagen würde. Etwas Unausgesprochenes lag in ihrem Schweigen; Lyrian spürte den Vorwurf in ihrem ausdruckslosen Blick. Wieso, schien sie zu fragen, hatte er die beiden nicht bestraft? Aber vielleicht blieb sie stumm, weil sie die Antwort schon kannte. Ein kaum wahrnehmbares Zucken ging um ihren Mund.
    »Die Sphinxe werden die Verbrecher finden«, sagte sie und verließ den Raum.
     
    Lyrian lief den hohen Korridor entlang, der zu den Gehegen der Wildtiere führte.
    »Tibb!«, rief er. »Baltibb!«
    Als er die Käfige erreichte, blieb er nach Luft ringend stehen. Ein paar erschrockene Hyänen keiften ihn an, ehe sie in den Winkeln ihrer Gehege verschwanden. Vögel flatterten durch die Bäume, über denen feine Netze aufgespannt waren. Irgendwo sprudelte Wasser.
    »Tibb... bist du hier?«
    Am Ende der Halle tauchte ein drahtiges Mädchen auf. Ihr Haar war schwarz wie Kohle und kräuselte sich in den Spitzen. Wie es Brauch war, trug
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher