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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sie es in einem langen, mit Stoff umwickelten Zopf. Als Tierhüterin durfte sie statt der üblichen weißen Dienerkleider Beinlinge und einen dunklen Wollkittel tragen, der ihr abgewetzt bis zu den Knien reichte.
    Lyrian rannte auf sie zu. Baltibb hielt zwei Windhunde an den Halsbändern, die den heraneilenden Prinzen dumpf anknurrten, und befahl ihnen, still zu sein. Dann machte sie einen Knicks vor Lyrian.
    »Wieso lauft Ihr in Eurer natürlichen Gestalt, Hoheit? Seit gestern Nacht könnt Ihr doch fliegen oder als Fuchs...« Baltibb verstummte.
    »Du musst etwas für mich tun, Tibb, schnell, jetzt gleich!«
    »Was ist los?«
    »Heute früh hat man mich erschossen. Die Sphinxe suchen die Mörder. Ein Mädchen ist dabei, das nicht getötet werden soll! Ich habe der Kaiserin gesagt, dass sie unschuldig ist, aber das wird ihr egal sein. Wenn die Sphinxe das Mädchen gefunden haben, musst du sie zu mir bringen.«
    Baltibb starrte ihn an. Sie beobachtete ihn oft, und Lyrian hatte nichts dagegen, denn ihre Blicke waren wie seltene, verbotene Berührungen auf seinem Gesicht. Aber jetzt hatten sie keine Zeit zu verlieren.
    »Verstehst du«, schnaufte er. »Du musst zum Gefängnis gehen, zeig dort diesen Brief.«
    Er zog ein Papier aus dem Bund der knielangen Hose, außer der er nichts trug - die vier Stockwerke und zwei Dutzend Korridore von seinem Schlafgemach bis hierher war er barfuß gelaufen.
    Zögernd nahm Baltibb den Brief entgegen. Inzwischen kannte Lyrian sie gut, jedenfalls besser als jeden anderen Menschen, und im Verlauf der Jahre war sie Zeugin seiner wechselnden Launen geworden. Sie hatte nie versucht, ihn zu verstehen, schließlich war er ein Drache. Die Gedanken eines Drachen überstiegen ihren Menschenverstand. Aber jetzt fragte sie: »Wieso?«
    »Tu es einfach.«
    Zögernd schob Baltibb sich den Brief in den Kittel, dann führte sie die beiden Hunde in ihre Gehege zurück. Als sie abgeschlossen hatte, folgte sie Lyrian in den Falkenturm.
    »Wollt Ihr nicht lieber drinnen bleiben?«, fragte sie zaghaft, denn es war kalt im Turm. Trotzdem trat er an die mit Draht vergitterten Fenster und blickte hinaus ins weiße Nichts.
    »Das Mädchen hat mich wirklich erschossen.« Ein verwirrtes Lächeln stieg ihm ins Gesicht. Seltsam, dass es ihm in Baltibbs Nähe so leichtfiel, zu lächeln; selbst wenn er gar nicht wollte, passierte es. Bei ihr konnte er Dinge sagen, an die er sonst nicht einmal dachte.
    Er sah sie an, betrachtete den Schreck in ihren dunklen, klugen Augen. »Gestern nach dem Ritual... habe ich den Palast verlassen. Ich wollte für immer weg.« Seine Finger glitten am Netz entlang. »Ich habe über den Tod nachgedacht. Und dann wurde ich getötet.«
    »Aber wenn dieses Mädchen Euch umgebracht hat, dann verdient es Eure Gnade nicht!«
    »Ob sie erkannt hat, dass ich ein Drache bin? Dann muss sie unglaublich mutig sein.«
    »Töricht ist das richtige Wort«, entgegnete Baltibb. »Und sie ist offenbar eine Rebellin.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie sah nicht töricht aus. Sie war wunderschön.«
    Er merkte, wie sich Baltibb verkrampfte. »Trotzdem hat sie Euch erschossen, Hoheit. Das ist ein unverzeihliches Vergehen.«
    »Ich will sie fragen, warum sie es getan hat.«
    »Aber sie ist ein Mensch! Menschen tun Dinge, ohne darüber nachzudenken. Zeitverschwendung, ihre Taten nachvollziehen zu wollen.«
    Er sah sie lächelnd an, bis sie errötete. »Bring sie mir, Tibb. Bitte.«
    Sie kaute auf ihrer Unterlippe, als würden ihr die unausgesprochenen Widerworte gleich aus dem Mund springen. Dann verneigte sie sich und murmelte: »Wie Ihr wünscht... Lyrian.«
     
    Im Falkenturm hatte er Baltibb zum ersten Mal getroffen. Er erinnerte sich sehr gut daran: Aus einer Ecke hatte er beobachtet, wie ein Welpe hereingelaufen war, denn er hatte vergessen, die Tür des Turms zu schließen. Und hinterher kam ein Mädchen, wie er damals nicht älter als sieben oder acht. Schützend nahm sie den Welpen in die Arme, damit die Falken sich nicht auf ihn stürzten. Und dann war Lyrian aus den Schatten getreten, und sie hatte ihn erschrocken angesehen, ohne daran zu denken, dass man einem Drachen nicht ins Gesicht blicken durfte. Seitdem hatte sie es noch viele Male vergessen.
    Acht Jahre waren inzwischen verstrichen. Baltibb war ein Mensch und eine Dienerin obendrein, aber das änderte nichts daran, dass Lyrian ihr mehr vertraute als irgendjemandem sonst. Im Gegenteil, manchmal fragte er sich, ob er ihr vielleicht so
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