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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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, findest du nicht,
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? Wenn er nicht gestorben wäre, würde er Clint Eastwood in
Die Brücken am Fluss
gleichen.
    An dem Freitag, an dem sie ihm beim Lunch im Trudy Tuesday begegnete, war Emilia wie jeden Tag Punkt sieben Uhr aus dem Haus gegangen. Sie brauchte höchstens vierzig Minuten von ihrer Wohnung in der North Fourth Avenue in Highland Park zum Stammhaus von Hammond im Industriegebiet Springfield. Sie umging tunlichst die unvermeidlichen Unfälle auf dem Weg und die unversehens auf einer Strecke von zwei Meilen niederprasselnden Gewitter, nach denen wieder eine strahlende Sonne schien. Wie die Taxifahrer fuhr sie mit dem Radiosender 1010 AM , der über Verkehrsunfälle informierte.
    Der Vorort war endlos und immer gleich, und wenn sie sich ablenken ließ, wie es ab und zu vorkam, landete sie, eh sie sich’s versah, in den Einkaufskomplexen, in denen sich halbkreisförmig Filialen von Wal-Mart, Pep Boys, Pathmark und Verizon Wireless ausbreiteten, unter einem Himmel mit den immer gleichen Wolken und Vögeln, die genau gleich krächzten. Nur das Laub der Walnussbäume zeigte Phantasie und fiel im Herbst anders.
    Manchmal döste Emilia im Büro, während auf dem Bildschirm die Farben einer Karte, die Druckprioritäten, die Namenmasken erschienen, beim Gedanken an Simón ein, den sie nicht hatte sterben sehen. Schon der Tod des geliebten Menschen erzeugt reichlich Zerstörung. Wie viel mehr also erst ein Tod, von dem man nicht weiß, ob es ein Tod war? Wie das verlieren, was man noch gar nicht gefunden hat? Einen Schimmer einer Antwort hatte sie in dem Gedicht gelesen, das Idea Vilariño dem Mann widmete, der sie verlassen hatte:
Ich bin nur noch ich/für immer, und du/wirst für mich/nicht mehr/sein als du. Du bist nicht mehr/an einem künftigen Tag/ich werde nicht wissen, wo du lebst/mit wem/noch ob du dich erinnerst./Du wirst mich nie umarmen/wie in jener Nacht/nie./Ich werde dich nie wieder berühren./Ich werde dich nicht sterben sehen.
    Als man ihr Jahre zuvor erzählt hatte, eine Gruppe Geographen werde zwei Winter in Nuuk in Grönland verbringen, um die Erderwärmung auf einer Karte festzuhalten, stellte sie sich vor, Simón sei bei dieser Expedition dabei. Es war eine dumme Phantasie, aber einige Monate lang hatte sie ihr Trost gebracht. In das Heft, in dem sie ihre Gefühle festhielt, schrieb sie an diesem Tag einen Satz, der sie immer noch schmerzte: »Wenn er zurückkäme, könnte ich ihn sterben sehen.«
    Beim Prozess gegen die Offiziere der Militärdiktatur sagten drei Personen aus, sie hätten in einem Hof des Polizeipräsidiums von Tucumán Simóns Leiche mit Folterspuren und einem Einschussloch zwischen den Augen gesehen. Emilia befand sich in Caracas und wusste nicht, ob sie dieser Nachricht Glauben schenken sollte oder nicht. Die Zeugen wirkten glaubwürdig, aber ihre Versionen waren unterschiedlich. Im Moment der Verhaftung war sie mit ihrem Mann zusammen gewesen und hätte etwas Gegenteiliges bestätigen können: Man habe sie irrtümlich festgenommen und nach zwei Tagen wieder freigelassen, ihn zwei Stunden eher. Simóns Unterschrift stand zweifelsfrei im Austrittsbuch der Wache. Und Dr.Orestes Dupuy, ihr Vater, hatte die Geschichte beim Militärgouverneur persönlich bestätigt.
    Für Emilia war dies eine Wahrheit, an der es nichts zu deuteln gab. Da sie daran glaubte, rührte sie sich monatelang nicht aus ihrer Wohnung in San Telmo fort, sondern wartete, dass unversehens ihr Mann sie anriefe. Damals verspürte sie eine erbarmungslose Leere, verfolgte durchs Fenster das Verstreichen der Stunden, lernte die Konturen der gegenüberliegenden Häuser und die sich jenseits der Vorhänge bewegenden Silhouetten auswendig. Der Vater bestand darauf, dass sie in den Familiensitz zurückkehrte, doch Emilia wollte die Ordnung der Dinge wie zu Simóns Zeiten bewahren, als sie morgens in den Automobilklub zur Arbeit fuhren und sich nach der Rückkehr ums Abendessen kümmerten, ohne je zu vergessen, dass es zwei waren, die sich an den Tisch setzen würden.
    Ab und zu erhielt sie verwirrende anonyme Briefe von Leuten, die Simón in Bogotá oder Mexiko gesehen haben wollten und Geld für weitere Informationen verlangten, oder Anrufe, die die Geschichte seines Todes wiederholten. Diese widersprüchlichen Nachrichten raubten ihr den Schlaf. Sie war weiterhin verliebt wie ein dummes Huhn und, was schlimmer war, wusste, dass es eine sinn- und gegenstandslose Liebe war. Fast ein Jahr nach Simóns
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