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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Verschwinden, als man kaum noch von ihm sprach, beschloss sie nach langem Zögern, zur Zerstreuung ins Kino Iguazú zu gehen und sich
Ein besonderer Tag
anzusehen, Ettore Scolas Film über eine Mutter von sechs Kindern und einen homosexuellen Radiosprecher, die sich Liebe schenken, so gut sie eben können, in einem schmutzigen Haus, dessen Insassen alle weggegangen sind, um der Parade zu Ehren Hitlers anlässlich seines Rom-Besuchs 1935 beizuwohnen. Nach einer knappen Stunde Vorstellung fiel die Klimaanlage aus. Es war ein schwammig-feuchter Tag, und die Bilder kamen wie Dampfschwaden aus dem Projektor, so dass sie ganz irreal wirkten. Die Luft im Saal war nicht mehr zu atmen, und man vernahm Gezische und Getrampel. Einige Zuschauer trollten sich. Eine Frau, die offenbar gerade erst gekommen war, setzte sich so heftig neben Emilia, dass ihr die Handtasche zu Boden fiel. Während sie sich vorbeugte, um sie aufzuheben, flüsterte sie ihr zu: Dein Mann ist zusammen mit meinem in Tucumán ermordet worden. Meiner ist bei der Folter draufgegangen. Deinem haben sie fünf Kugeln in die Brust gejagt und dann den Gnadenschuss zwischen die Augen. Wir können nicht so weitermachen, als wäre nichts geschehen. Ich glaube dir nicht, sagte Emilia. Du bist eine subversive Sau. Ich bin gekommen, um dir einen Gefallen zu erweisen, insistierte die Frau. Ich will nichts von dir. In diesem Land sind wir ja alle schon tot. Die Lichter gingen aus und die Klimaanlage an, und der Film begann noch einmal von vorn. In der hinteren Reihe zischte jemand. Die Frau stand auf und verschwand in der Dunkelheit. Emilia wechselte den Platz und blieb bis zum Ende des Films steif im Kino sitzen.
    Mehr als einmal hatte sie ihren Vater sagen hören, die – bereits dezimierten – Subversiven verkauften jede denkbare Geschichte, bloß um die Leute für ihre Sache zu gewinnen. Die Unbekannte war eine von denen, und obwohl Emilia keinen Zweifel daran hatte, dass sie sie belogen hatte, blieb ihr das Bild von Simón, der wie ein Hund dalag, noch lange im Gedächtnis haften. Sie musste ihn sich immer wieder vorstellen mit dem Einschussloch in der Stirn, von Fliegen und dem Ruß der verbrannten Blätter der Zuckerfabriken beschmutzt. Diesen Gedanken nahm sie überallhin mit, als wäre ihr ganzes Wesen in diese tote Person eingetaucht, bei der niemand Wache gehalten hatte. Doch sie war sicher, dass Simón noch am Leben war. Vielleicht war seine Erinnerung ausgelöscht, oder er lag in irgendeinem Krankenhaus und konnte sich nicht melden.
    Drei Tage später wurde sie von einem Anruf geweckt.
    Ich bin Ema, sagte eine verstellte Stimme.
    Was für eine Ema?
    Die Ema, die dich im Kino aufgesucht hat.
    Ah du, brachte Emilia nur heraus. Was du mir gesagt hast, stimmt nicht. Ich habe noch einmal den Polizeirapport gelesen. Mein Vater hat die Tatsachen bestätigt.
    Die Stimme wurde schrill und sarkastisch:
    Und du glaubst deinem Vater? Wenn es nach dem ginge, kämen wir nie aus dieser ozeanischen Scheiße raus. Da gibt es Tausende Frauen wie dich und mich. Ehemänner, die verschwinden, Kinder, die nicht wiederkommen. Wir verlieren zu vieles.
    Simón lebt. Uns, die wir in nichts verwickelt sind, tun sie nichts. Ich habe niemand verloren.
    Aber selbstverständlich hast du etwas verloren. Du wirst dich den Rest deines Lebens fragen, warum dein Mann nicht auftaucht. Und wenn du dann zur Überzeugung gelangst, dass er tot ist, wirst du dich fragen, wo man ihn verscharrt hat. Ich will wenigstens die Knochen meines Mannes küssen können.
    Zitternd hängte Emilia auf. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Als sie wenige Tage zuvor im Bus nach Hause gefahren war, hatte eine Frau ein Flugblatt auf ihren Rock fallen lassen. Sie sah aus wie eine Bettlerin, und Emilia beachtete sie nicht weiter. Sie wollte den Zettel zurückgeben, doch die Frau stieg an der Ecke aus und verlor sich in der Menge. Zerstreut las sie einen Abschnitt: »Weitere tausendfünfhundert bis dreitausend Menschen sind insgeheim massakriert worden, nachdem verboten worden ist, über Leichenfunde zu informieren.« Das waren Niederträchtigkeiten. Alle Zeitschriften behaupteten, die Exilierten verleumdeten das Land. Dieses Flugblatt war der Beweis dafür. Sie zerriss es und warf es zu Boden.
    Diesen Vormittag arbeitete sie in der Kartographieabteilung des Automobilklubs mit einer Unruhe, die sie erstickte. Sie empfand tiefen Groll gegen diese Ema.
Dein Vater ist ein Scheißkerl.
Wie konnte sie so etwas
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