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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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seinem langen Exil, ständig gab es Demonstrationen. Und trotzdem kam mir Buenos Aires menschenleerer vor denn je. Ich fiel in eine solche Depression, dass ich nicht weiterwusste, sobald die Cafés schlossen. Vor lauter Zerstreutheit machte ich auf der Arbeit viele Fehler, und ich wäre sicher gefeuert worden, hätte es nicht so wenig Graphikzeichner gegeben. Schließlich hielt ich das Schweigen nicht mehr aus und ging zum Fernsprechamt Ecke Corrientes und Maipú, wo ich mich mit sämtlichen Familien ihres Namens in Rawson verbinden ließ. Es waren nur sechs, und keine hatte je etwas von ihr gehört. Das fand ich merkwürdig, wo es doch ein Nest ist, in dem sich fast alle kennen. Ich wartete einen weiteren Monat, umsonst. Ich erhielt keine Briefe oder sonstigen Nachrichten, gar nichts. Da bat ich im Büro um Urlaub und fuhr aufs Geratewohl nach Patagonien. Ich stellte mir vor, wenn ich erst in Rawson wäre, würde ich sie sicher bald finden. Die Busfahrt dauerte zwanzig Stunden und führte über eine ebene, öde Straße, die mir wie die Verkörperung meines Ziels vorkam. Kaum angelangt, machte ich mich auf die Suche nach ihr. Ich ging in die Krankenhäuser, sprach mit Onkologen, suchte in den Listen der Verstorbenen. Niemand wusste etwas.
    Es macht mich ganz verzweifelt, dir zuzuhören, sagte Emilia.
    Das ist noch nicht alles. Abends erkundigte ich mich in den Kneipen. Ich setzte mich hin, bestellte ein Bier und ließ in den Jukeboxes immer wieder »Papieraugenmädchen« laufen, im Irrglauben, die Melodie zöge sie an. Eines Abends erzählte ich meine Tragödie einem Wirt und zeigte ihm das Foto, das ich in der Brieftasche hatte. Ich glaube, die hab ich in Trelew gesehen, sagte er. Warum probieren Sie es nicht mal dort? Trelew war eine größere Stadt vierzehn Kilometer westlich, und die Leute wirkten argwöhnischer. Ich unternahm dieselben Schritte wie in Rawson, aber diesmal fragte ich auch in den Gefängnissen nach. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in den umliegenden Dörfern dasselbe tat, in Gaiman, Dolavon, Puerto Madryn. Als ich nach Buenos Aires zurückkam, hatte ich schon die Illusion, sie würde mich erwarten. Ich habe sie nie wiedergesehen.
    Du wartest noch immer auf sie.
    Nicht mehr. Es kommt ein Moment, wo du dich damit abfindest zu verlieren, was du verloren hast. Du spürst, dass es dich losgelassen hat, aus deinem Leben herausgefallen ist und dass nichts mehr so ist wie früher. Ich erinnere mich an sie, klar, aber ich wache nicht mehr mitten in der Nacht auf und frage mich, ob sie wohl krank ist, oder mit einem anderen zusammen, oder tot. Manchmal zweifle ich daran, dass es sie überhaupt gegeben hat. Ich weiß, dass ich sie nicht erfunden habe. Ich habe immer noch eine ihrer Blusen, ein Paar Schuhe, ein Schminktäschchen, zwei Bücher von ihr. Sie hieß ebenfalls Emilia.
    Zwei Jahre später heirateten sie. Simón gab die Arbeit für die Zeitungen auf und stieß zum Kartographenteam des Automobilklubs, bei dem Emilia seit einigen Monaten arbeitete. Sie waren glücklich, so, wie Emilia sich das Glück vorgestellt hatte. Ungezwungen unterhielten sie sich über Themen, bei denen anderen Paaren mulmig geworden wäre, und um dieses gegenseitige Vertrauen herum bauten sie ihre häusliche Ordnung auf. Im Sex fand sie nicht denselben Genuss wie ihre Freundinnen angeblich, aber sie ließ sich nichts anmerken und vermutete, die Lust werde von allein kommen.
    Erst als auch er sie dann auf einer Reise nach Tucumán verlor, begann sie das Schuldgefühl zu quälen, ihn nicht glücklich gemacht zu haben. Sie verspürte eine schmerzliche Eifersucht auf die andere Emilia, die Simón vielleicht immer noch suchte. Es gab Nächte, in denen sie mit dem Gefühl erwachte, der ganze Körper des Ehemanns befinde sich in ihr und erforsche die tiefsten Höhlungen bis zum Hals hinauf. Es war eine so reale Lust, dass sie ihr die Tränen in die Augen trieb. Dann stand sie auf und nahm eine Dusche, aber wenn sie wieder ins Bett ging, blieb der Geist des geliebten Körpers ihrem Innersten eingeprägt.
     
    Ihn dreißig Jahre später wiederzufinden brachte sie durcheinander. Früher, als sie ihn noch suchte, hatte sie sich immer vorgestellt, wenn sie erst einmal wieder zusammen wären, würde sich sogleich von neuem die gemeinsame Routine einstellen und sie würden weiterleben, als wäre nichts geschehen. Aber jetzt trennte sie eine Art Abgrund, umso tiefer, als Simón keinen Tag älter geworden war, während auf ihr ihre gut
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