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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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richtig, Dirk Bogarde betrachtete verwirrt den schönen Jüngling Tadzio, wie er im Lido dem Meer entstieg, sprang das Bild zu den russischen (oder war es Deutsch?) Gesprächen der Badegäste und den Himbeerverkäufern am Strand zurück. Einen Augenblick vermutete Emilia, der Regisseur wiederhole die Plattitüden der Sommerfrischler, um eine weitere Lektion in kritischem Realismus zu erteilen, und versuchte, zur nächsten Szene zu gelangen. Doch sie kehrte zum Bild von Tadzio zurück, der das Meerwasser abschüttelte, kehrte hartnäckig immer wieder zum selben Akkord aus Mahlers Fünfter zurück. Zwei Tage später, als die Ausleihfrist fast abgelaufen war, legte sie abends die DVD noch einmal in den Player und gelangte bis ans tragische Ende. Sie wusste, dass die Ungeschicklichkeit mit dem Alter zunahm, vertraute aber darauf, dass sich das mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit ausgleichen ließ.
    Die Stimmen der Männer im Nachbarabteil regten sie auf. Sie wollte sich einzig auf die von Simón konzentrieren, und alles, was sie davon ablenkte, war unerträglich. In einem Restaurant, in dem selten etwas anderes zu hören war als der schleppend-näselnde Akzent von New Jersey, mischten die beiden Männer Fachjargon und skandinavische Ausrufe in ihr derbes Amerikanisch. Sie erwähnten die Vektoren des Programms MicroStation, das auch bei Hammond verwendet wurde, wo sie arbeitete. Ganz zusammenhanglos wiederholte einer der Unbekannten Lektionen, die man in den ersten Kartographiestunden lernt. Karten, sagte er, sind unvollkommene Kopien der Wirklichkeit, die auf planen Flächen etwas beschreiben, was eigentlich Rauminhalte, bewegte Wasserläufe, erodierende Berge, Gesteinslawinen sind. Karten sind schlecht geschriebene Fiktionen, fuhr er fort. Zu viel Information und keine Geschichte. Früher, das waren noch echte Karten: Wo nichts war, schufen sie Welten, was man nicht wusste, stellte man sich vor. Die Afrikakarte von Buonsignori, könnt ihr euch erinnern?, fuhr der Mann fort, mit den Königreichen Canze, Melinde, Zaflan, reine Erfindungen. Dem Zaflan-See entsprang der Nil und so. Statt den Wanderer zu orientieren, brachten sie ihn vom Weg ab. Die Unbekannten sprangen von einem Thema zum anderen, ohne den Sturzbach einzudämmen. Emilia erinnerte sich an die Karte von Buonsignori. Hatte sie davon geträumt, oder hatte sie sie in Florenz oder im Vatikan gesehen? Die Stimmen brachten sie durcheinander. Sie schnappte die Worte nicht vollständig auf. Sie gelangten zerrissen, in Fetzen an ihr Ohr. Ein Satz, der gerade Sinn bekommen wollte, wurde von Feuerwehrautos oder vom Klagelaut der Krankenwagen unterbrochen.
    Der Mann mit der heiseren, verbrauchten Stimme sagte, sie dürften keine Zeit verschwenden, sie sollten endlich über die Expedition zu den Kaffeklubben diskutieren. Was für eine Verrücktheit, Kaffeklubben, dachte Emilia. Ein ganz unbedeutendes Inselchen im Nordwesten von Grönland, Ultima Thule, wo alle Winde der Welt ins Verderben abwehten. Wir müssen die Expedition so bald wie möglich organisieren, wiederholte der Heisere. In Kopenhagen nimmt man an, höher im Norden gebe es noch eine weitere Felseninsel. Sollte es keine geben, hindert uns nichts daran, sie uns auszudenken.
    Let’s think more about that, let’s think more
, unterbrach sie Simón. Emilia erschrak. Sie erkannte seine Stimme, aber in dem, was er sagte, blieben nur wenig Merkmale des einstigen Simón. Der da sprach fließend Englisch, artikulierte sorgfältig die Schlusskonsonanten,
think, let’s
, in einer britischen Diktion, unerreichbar dem Gatten, der nie in der Lage gewesen war, auch nur Handbücher in einer Fremdsprache zu lesen.
    Was macht einen Menschen zu dem, was er ist? Nicht die Musik seiner Sprache oder ihre Holprigkeit, nicht die Linien des Körpers, nichts Sichtbares. Mehr als einmal hatte sie sich etwas vorgemacht, wenn sie auf der Straße Männern hinterherlief, die Simóns Gang hatten oder einen Rasierwasserduft in der Luft zurückließen, der sie an seinen Nacken erinnerte, und wenn sie sie dann von vorn sah, war sie untröstlich. Warum gibt es nicht zwei identische Menschen, warum merken die Toten nicht einmal, dass sie gestorben sind? Der Simón, der drei Schritte von ihrem Tisch entfernt sprach, war derselbe wie der vor dreißig Jahren, aber nicht der von vor zehn Minuten. Etwas an ihm veränderte sich allzu schnell, als dass sie ihn hätte einholen können. Er entwischte ihr erneut, um Himmels willen, oder war eher sie es,
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