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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier
Autoren: Holger Reiners
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erfrischend ein Glas Wasser in der Hitze ist, so lebensnotwendig ist der Spiegel eines Gegenübers, eines Menschen, der uns der Notwendigkeit des Daseins versichert – in Empathie und ehrlichem intellektuellen Interesse.
    Das Alter annehmen zu können, ist für mich nicht allein eine Frage des Charakters, sondern der persönlichen Lebensumstände. Wer täglich von Kindern, Enkeln, Freunden, Nachbarn und Gästen umgeben ist – und nicht nur auf den Postboten wartet –, erfährt das wohltuende Elixier der Geborgenheit, der Sinnhaftigkeit seines Daseins und die Freude, dazuzugehören und unverzichtbarer Antrieb für das große Schwungrad einer lebendigen Gegenwart zu sein.
    Es ist hohe Zeit, alten Menschen, denen ihr Dasein als Treibstofflieferant des Lebens versagt ist – aus welchen Gründen auch immer –, liebevoll die Hand zu reichen. Alter ist kein Kausalitätsimpuls für eine Depression. Natürlich
gibt es die klassische Depression auch im Alter. Dann müssen wir sie als Gesellschaft ebenso ernst nehmen wie jede Krebserkrankung, an der schließlich die meisten von uns sterben.
    Wir dürfen aber nicht länger zulassen, dass nachlassende Vitalität und eine gewisse Lebensmüdigkeit zu den scheinbar typischen Symptomen des Altwerdens gehören – so wie es die betagten Patienten jeden Tag in ihrem Lebensumfeld, in der Familie und der Praxis ihres Hausarztes erfahren.
    Alte Menschen sind eine Goldgrube – an Wissen, Erfahrung und Herzlichkeit. Wir müssen nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, um Zugang zu den Schätzen zu finden. Wünschten wir uns eines Tages nicht genau das? Menschen, die uns als kostbar wahrnehmen, als interessant und wichtig?
    So unglaublich komplex unser Gehirn auch sein mag, so simpel reagiert es doch auf gewisse Impulse. Einer davon ist Belohnung. Tierversuche zeigen immer wieder, wie schnell die Kreatur auf belohnende Reize reagiert, wie sie alle Fähigkeiten einsetzt, um möglichst viele davon in der jeweiligen Versuchsanordnung zu erleben. Ich spreche von Mäusen. Aber verhalten wir Menschen uns etwa anders? Jeder positiv verlaufene Karriereweg basiert auf der Folge immer wieder gesteigerter Belohnungsrituale: Position, Geld, Macht, Einfluss.
    Ob wir die Erfolge in der Medizin zur Lebensverlängerung jedes Einzelnen als Geschenk oder am Ende doch als Bürde empfinden, hängt allein davon ab, welchen Belohnungsritualen wir noch im Alltag ausgesetzt sind – und wenn es die eigenen sind. Aber in diese Regionen der Lebensweisheit gelangen wohl nur wenige von uns.
    Ich möchte, dass wir uns als Gesellschaft der Verantwortung stellen und dem Alter die Priorität in der Wertschätzung
einräumen, die es verdient hat. Atmosphärisch müssen wir das jetzt tun, jeden Tag, denn die demografische Entwicklung wird uns schon bald dazu zwingen – Ausblenden dürfen wir diese statistische Realität nicht länger. Das Stigma Altersdepression wird die Situation nur verschlimmern, weil die große Zahl alter Menschen, denen wir die Teilnahme an einem sinnerfüllten Leben verweigern, uns mit der Keule Demenz, Hilfsbedürftigkeit, teurer medizinischer Versorgung und durch ihre schlichte passive Gegenwart abstrafen werden. Sollte ich eines Tages einer von ihnen sein, dann habe ich hoffentlich noch ein Quäntchen Restlebenskraft, mich für ein würdiges Leben im Alter einsetzen zu können: einem Leben, das nicht nur geduldetes Dasein bedeutet, sondern akzeptierte, geschätzte und notwendige Gegenwart.
    Für all das habe ich kein Erfolgsrezept. Aber ich habe meine Eltern erlebt, andere mir vertraute Alte, die mit großer Disziplin jeden Tag ihr Leben ausfüllen wollten, aber wegen mangelnder Impulse von außen – Schwerhörigkeit, Sehschwäche, Gebrechlichkeit, Einsamkeit – von dem Belohnungsritual erlebter Gegenwart sich irgendwann ausgeschlossen gefühlt haben. Dann wird Leben zur Last. Und nicht zu oft zur Qual. Die vielen Suizide im Alter sprechen eine deutlich anklagende Sprache.
    Für mich ist jedes Mittel recht, einem alten oder auch nur alternden Menschen die Möglichkeit zu geben, über eine unterstützende Medikation dem eigenen seelischen Schwungrad wieder zu guter Lebenskraft zu verhelfen. Hier sehe ich gerade für die Psychiatrie eine große Daseinsberechtigung durch medikamentöse Unterstützung alter Menschen. Von den Therapeuten muss die Botschaft an die Internisten ausgehen: Wir können helfen und wir können euch zeigen, wie ihr helfen könnt. Alte Menschen und Psychiatrie passen
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