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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier
Autoren: Holger Reiners
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geben!« Nur werden die Alten immer älter und so manches »Leben« der Nachfolgegeneration beginnt dann erst mit über 60.
    Allerdings muss daraus ja nicht zwangsläufig immer ein Konflikt entstehen. Wenn die Mitglieder der einzelnen Generationen klug miteinander umgehen, dann kann es für alle nur einen großen emotionalen und intellektuellen Zugewinn geben – gleichsam das Geschenk der Erfahrung frei Haus.
    Der Schriftsteller und Philosoph Cicero hat vor 2000 Jahren die bis in unsere Tage gültige Schrift »Über das Alter« verfasst. Es ist eine Ode an das Alter, an die Vorzüge, Möglichkeiten und Verpflichtungen. Zitat: »Bei vielen (von den Alten) habe ich (aber) ein Alter ohne Klage kennengelernt; sie bedauerten es gar nicht, von den Banden der Sinneslust befreit zu sein, und sie wurden auch von den Leuten aus ihrer Umgebung nicht verachtet. Doch liegt die Schuld für alle (solche) Klagen beim Charakter, nicht beim Alter. Denn ältere Leute, die gelassen, nicht mürrisch und nicht unfreundlich sind, erleben ein durchaus erträgliches Alter, ein unfreundliches und schroffes Wesen aber macht jedes Alter zur Plage.« Muss man dem noch etwas hinzufügen? Nein, es wäre anmaßend.
    Was aber ist mit denen, die nicht in einer derart kommunikativen Gemeinschaft leben, wie es Cicero vergönnt war – trotz aller heute möglichen Vernetzung über Telefon, Handy oder das Skypen? Was ist, wenn die Ansprechpartner fehlen, der tägliche Gedankenaustausch, das tägliche intellektuelle Training, die tägliche Herausforderung, der man sich unbedingt auch im Alter in Bestform stellen möchte – geistig wie körperlich? Dürfen wir von diesen Einsamen tatsächlich die Stärke des selbst gewählten Daseins eines Eremiten erwarten? Wohl kaum. Das Schwungrad des Lebens – Thomas Mann hat einmal die Selbstverständlichkeit unseres täglichen
Tuns so benannt – bedarf des stetigen Energieimpulses, so wie der Motor eines Autos: ohne Benzinzufuhr wird er zuerst stottern und dann den Dienst versagen.
    Aber woher im Alter jeden Tag den Treibstoff nehmen, der das Schwungrad verlässlich in Gang hält? Seien wir ehrlich: Ist das Ausschlafen am Sonntag nicht deshalb so erquicklich, weil wir einmal der Forderung des Wochentages etwas entgegensetzen können – die Freiheit der Selbstbestimmung? Was aber, wenn der Sonntag wie der Montag ist, wenn es nicht den Pendelschlag zwischen An- und Entspannung mehr gibt, wenn der Rhythmus des Tages nur noch von Hunger und Nichthunger bestimmt ist und irgendwann auch der Appetit abnimmt, gleichsam als Vorbote der Lebensmüdigkeit?
    Cicero hatte das Glück, 63 Jahre alt werden zu dürfen. Das war jedoch die Ausnahme, auch wenn einige wenige andere Philosophen seiner Zeit noch älter werden durften. Man muss auch heute kein Philosoph sein – Frau oder Mann –, um freudig gelassen alt zu werden und vor allem zu sein, aber ist es nicht für jeden Menschen ein Geschenk, wenn man noch an dem Schaukeln des Lebens teilnehmen kann und nicht nur zusehen darf, wenn überhaupt? Ein freundliches Wort, eine nette Geste, eine Bitte, eine Aufgabe, die Faszination des Gespräches, der Herzlichkeit, der kleinen, Zustimmung versichernden Berührungen – sind das nicht die Glücksmomente des Tages, die wir uns wünschen, nicht nur im Alter? Im Alter wird es schwerer, sich täglich diesen Treibstoff des Lebens zu besorgen, vor allem dann, wenn die Achtung des Alters nachlässt und die Isolation der alten Menschen zunimmt – da können dann auch keine barrierefreien Gehsteige noch Mut machen, doch auch weiter am Leben teilzunehmen.

    Bis etwa zum 50. Lebensjahr empfinden wir das Leben als Goldader, aus der wir nach Belieben schürfen können. Danach spüren wir, dass ohne Investieren die Ausbeute nachlässt. Einige Zeit können wir uns über diesen Lebenszustand hinwegtäuschen, meinen, auf wieder bessere Erträge in der Zukunft setzen zu können, um dann festzustellen, dass es tatsächlich Zeit wird, uns aktiv um den Erhalt unserer Goldmine Leben zu kümmern und in Geist und Körper zu investieren, damit die Erträge aus unserem Wohlbefinden möglichst lange stabil bleiben.
    Was aber, wenn wir spüren, dass wir gar nicht mehr investieren wollen oder dass jede bisherige Investition ohne positives Ergebnis geblieben ist? Nicht aus Nachlässigkeit oder Hybris, sondern weil sich keine Möglichkeiten mehr auftun, zu geben und zu nehmen? Stichwort »Einsamkeit«. Einsamkeit ist nagend wie Hunger und Durst. So wunderbar
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