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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath
Autoren: Keith Ablow
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Wettrennen gegen das Böse an Boden verlor. Seine Oberlippe hatte angefangen zu zucken. Sein Nacken und seine Schultern waren schweißnass.
    Er riss die Augen weit auf und beschwor im Geiste das Gesicht seines letzten Opfers in den abschließenden Momenten seines jungen Lebens herauf und hoffte, das Bild würde ihn ernüchtern, so wie die Erinnerung an Übelkeit und Erbrechen einen Alkoholiker zu ernüchtern und Abscheu für die Flasche zu wecken vermag, die so verführerisch mit ihrem Versprechen auf Erleichterung und Erlösung lockt.
    Es war fast zwei Monate her, doch Jonah konnte noch immer sehen, wie Scott Carmadys Kinnlade herunterklappte und ein Ausdruck absoluter Ungläubigkeit in seine Augen trat. Denn wie sollte ein müder Reisender, der mit seinem Chevy am Straßenrand dieses verlassenen Highways in Kentucky liegen geblieben war und sich unverhoffter Hilfe erfreuen konnte, den unbeschreiblichen Schmerz seiner durchschnittenen Kehle fassen oder das warme Blut, das sein Hemd durchtränkte? Wie kann er die Tatsache begreifen, dass sein Leben, mit all dem Schwung der Hoffnungen und Träume eines Menschen in seinen Zwanzigern, urplötzlich zum Stillstand gebracht wurde? Wie kann er die Tatsache ergründen, dass der gut gekleidete Mann, der ihm die tödliche Wunde zugefügt hat, derselbe Mann ist, der sich nicht nur die Zeit genommen hat, ihm Starthilfe zu geben, sondern auch fünfzehn Minuten gewartet hat, um sicherzugehen, dass die Batterie nicht abermals schlappmachen würde?
    Und was für Minuten das gewesen waren! Carmady hatte Dinge preisgegeben, die er niemandem sonst je erzählt hatte – die Hilflosigkeit, die er gegenüber seinem sadistischen Boss empfand, den Zorn, der in ihm brodelte, weil er noch immer an seiner untreuen Frau hing. Während er sein Herz ausschüttete, fühlte er sich besser, als er das seit sehr, sehr langer Zeit getan hatte. Er fühlte sich erleichtert, so als wäre eine Last von ihm genommen.
    Jonah erinnerte sich daran, wie sich die Ungläubigkeit in den Augen des sterbenden Mannes in eine flehentliche Bitte verwandelt hatte. Es war keine flehentliche Bitte um die Antwort auf irgendein erhabenes, existenzielles Warum. Keine klischeehafte Schlussszene eines Films. Nein. Es war schlichtdie flehentliche Bitte um Hilfe. Als Carmady nach Jonah griff, wollte er ihn nicht angreifen oder sich verteidigen, er wollte sich nur an ihm festhalten.
    Jonah war nicht vor seinem Opfer zurückgewichen, sondern näher herangetreten. Er umarmte ihn. Und während Carmady sein Leben aushauchte, fühlte Jonah den Zorn in sich verrauchen und einem erhabenen Frieden Platz machen, einem Gefühl des Einsseins mit sich selbst und dem Universum. Und er flüsterte seine eigene flehentliche Bitte in das Ohr des Mannes: »Bitte vergib mir.«
    Tränen sprangen in Jonahs Augen. Die Straße schlängelte sich vor ihm durch die Nacht. Wenn Carmady doch nur willens gewesen wäre, mehr zu offenbaren, die letzten Schichten seiner emotionalen Schutzwälle abzutragen und Jonah die Gründe zu enthüllen, warum er sich von seinem Boss und seiner Frau zum Opfer machen ließ, welches Trauma ihn so schwach gemacht hatte, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Doch Carmady hatte sich geweigert, über seine Kindheit zu sprechen, hatte sich steif und fest geweigert, wie ein Mann, der eine Speisekammer voller Fleisch für sich behält – es Jonah vorenthielt, der verhungerte.
    Verhungerte wie jetzt.
    Jonahs Strategie ging nach hinten los. Er hatte tatsächlich geglaubt, die Erinnerungen an sein letztes Opfer würden das Ungeheuer in ihm im Zaum halten, doch das Gegenteil war der Fall. Das Ungeheuer hatte ihn überlistet. Die Erinnerung an den inneren Frieden, den er empfunden hatte, als er den Tod in seinen Armen und die Lebensgeschichte eines anderen Mannes in seinem Herzen trug, weckte in ihm den Hunger nach diesem Frieden, ließ ihn mit jeder Zelle seines glühenden Gehirns danach gieren.
    Im Vorbeifahren sah er das Hinweisschild auf einen Rastplatz eine halbe Meile entfernt. Er setzte sich auf und sagtesich, dass er dort anhalten, noch ein oder zwei Milligramm Haldol schlucken und Zuflucht im Schlaf suchen könne. Wie ein Vampir jagte er fast ausschließlich bei Nacht; es waren nur noch drei Stunden bis zum Morgengrauen.
    Er schwenkte von der Route 90 auf den Rastplatz. Dort stand bereits ein anderes Auto – ein älterer metallic-blauer Saab mit eingeschalteter Innenbeleuchtung. Jonah parkte drei Stellplätze weiter. Warum
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