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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath
Autoren: Keith Ablow
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seiner Familie, dann kam er ebenso unvorhergesehen zurück. Einen Grund für sein plötzliches Fortgehen oder seine unvermittelte Rückkehr hat er nie offenbart.
    Man fragt sich, ob Benjamin das Schweigen seines Vaters imitiert, ob er sich zu Tode hungert, um seinem ungestillten emotionalen Hunger Ausdruck zu verleihen.« Plotnik sah zum ersten Mal von seinem Manuskript auf. »Wie zu befürchten war, hat Benjamins Vater diese Theorie strikt verworfen. Er ist weiterhin nicht bereit, das Geheimnis zu lüften, was er in seiner Abwesenheit getan hat und was ihn zu seinem Verhalten bewogen haben könnte.«
    Plotnik nickte Jonah zu. »Unser fachärztlicher Berater wird heute der jüngste Personalzugang der psychiatrischen Abteilung des Canaan Memorial sein, Dr. Jonah Wrens.« Sein Blick wanderte zu dem jungen Mann, der neben der Tür des Hörsaals stand, und er sagte: »Bringen Sie bitte Benjamin herein.«
    Plotnik stieg vom Podium und ging zu dem Platz neben Jonah. Jonah stand auf. Er wollte zu den Sesseln hinter dem Eichentisch gehen, doch er blieb stehen, als sich die Hörsaaltür öffnete und Benjamin Herlihey in einem Rollstuhl und mit einem mobilen Tropf an jedem Arm hereingeschoben wurde.
    Selbst eingehüllt in eine weiße Krankenhausdecke ähnelte Benjamin Herlihey den Gestalten in einem Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs. Seine eingesunkenen Augen hatten bläuliche Ringe. Das rote Haar war fein und dünnte aus, sodass an einigen Stellen bereits seine Kopfhaut durchschimmerte. Die Knochen seiner Beine und Arme zeichneten sich kaum ab unter dem weißen Webstoff, der sie zudeckte. Sein Körper war schlaff und saß zusammengesackt in der linken Ecke des Rollstuhls. Er mutete Jonah alterslos an, neun oder neunzig, der Geburt ebenso nah wie dem Tod.
    Jonah begab sich ans vordere Ende des Saals. Er zog einen der Sessel vom Tisch weg, um Platz für Benjamins Rollstuhl zu schaffen. Dann saßen sich die beiden – Arzt und Patient – schweigend gegenüber. Benjamins Kopf hing kraftlos zur Seite, während er Jonah mit leerem Blick anschaute.
    »Ich bin Dr. Wrens. Jonah Wrens.«
    Benjamin sagte nichts und zeigte auch keine andere Reaktion.
    »Dr. Plotnik hat mich gebeten, mit dir zu sprechen, um zu sehen, ob ich dir helfen kann.«
    Benjamins Augen verdrehten sich erst nach oben, dannnach links und starrten einen Moment lang an die Decke, bevor sie langsam wieder zur Mitte zurückkehrten.
    Jonah betrachtete die Stelle, zu der Benjamins Blick anscheinend gewandert war. Dort war nichts. Er sah wieder den Jungen an. »Dr. Plotnik hat mir von deinen Schwierigkeiten erzählt. Ich möchte sie besser verstehen lernen.«
    Benjamin reagierte nicht.
    Jonah wollte gerade eine weitere Frage stellen, den Jungen anstacheln, ein oder zwei Worte zu stammeln. Doch er überlegte es sich, lehnte sich im Sessel zurück und saß einfach nur mit ihm da. Eine Minute verstrich. Dann zwei. Gelegentlich verdrehten sich Benjamins Augen zur Decke, und wenn sie das taten, verdrehte Jonah seine Augen in exakt der gleichen Weise.
    Zwei Minuten Schweigen sind mehr, als die meisten Menschen ertragen können. Die Leute im Saal rutschten nervös auf ihren Sitzen herum. Jonah sah aus dem Augenwinkel, wie sich einige zur Seite beugten, um mit ihren Kollegen zu flüstern. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie sagten. Wer ist denn dieser Kerl bloß? Tut er jetzt mal irgendwas? Warum sagt er denn nichts, Himmelherrgott noch mal?
    Jonah verbannte das alles aus seinem Kopf. Ohne den Augenkontakt mit Benjamin zu brechen, begann er, ganz langsam seinen eigenen Kopf, seinen Hals, seine Brust, seine Arme, Hüften, Schenkel, Knie und Füße so zu bewegen, dass sie genau die gleiche Position wie die des Jungen annahmen; er verwandelte sich in das Spiegelbild des Jungen, suchte die genaue Entsprechung zum Schwerpunkt von Benjamins Gleichgewicht durch den Druck, den er an manchen Stellen auf seiner Haut fühlte, an anderen dagegen nicht, durch die Anspannung, die er in einigen seiner Muskeln spürte, und den Mangel an Spannung in anderen.
    Weitere zwei Minuten verstrichen in diesem Zustand völliger Bewegungslosigkeit, während das Publikum immer unruhiger wurde und Jonah immer tiefer in seinem Sessel zusammensackte und zunehmend wie der Klon des kranken Jungen ihm gegenüber aussah.
    Dann richtete sich Jonah plötzlich in seinem Sessel auf. Er erhob sich. Er trat zu Benjamin, ging vor ihm in die Hocke und sah ihm in die Augen. »Ich werde dich jetzt
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